Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß
anderer epischer Kunst. | Lieber nehm ich darum die elegische Dichtung; da stehl ich | dem Parthenios nichts, nichts dem Kallimachos fort. | Eher wünschte ich selbst zum ‘ohrigen Tiere’ zu werden, | ehe ich schreibe: ‘Vom Fluss das Chelidionion gelb.’ | Solch ein Gesell aber fleddert so schamlos am großen Homeros, | dass er am Ende noch schreibt: ‘Singe mir, Muse den Zorn!’“ ÜS Beckby)
Bezeichnenderweise wird die kyklische Dichtung in ihrer kaum verhohlenen Homernachfolge hier mit Diebstahls-, d.h. mit Plagiatsvorwürfen in Verbindung gebracht. Als Elegiker folgt Pollianos stattdessen den Prinzipien des Kallimachos und des Parthenios – solchen Dichtern also, bei denen sich wegen der sorgsamen Durcharbeitung ihrer Werke leichtfertiges Plagiieren verbietet.
Die bei Pollianos formulierte Kritik an den Kyklikern wurde einige Jahrzehnte zuvor bereits von Erykios in einem Epigramm gegen Homer selbst gerichtet. Hier treten nicht die Anhänger der beiden Dichter gegeneinander an, sondern Parthenios selbst wird als Homerverächter präsentiert8:Anthologia Palatina7, 377
Εἰ καὶ ὑπὸ χθονὶ κεῖται, ὅμως ἔτι καὶ κατὰ πίσσαν | τοῦ μιαρογλώσσου χεύατε Παρθενίου, | οὕνεκα Πιερίδεσσιν ἐνήμεσε μυρία κεῖνα | φλέγματα καὶ μυσαρῶν ἀπλυσίην ἐλέγων. | ἤλασε καὶ μανίης ἐπὶ δὴ τόσον, ὥστ’ ἀγορεῦσαι | πηλὸν Ὀδυσσείην καὶ πάτον Ἰλιάδα. | τοιγὰρ ὑπὸ ζοφίαισιν Ἐρινύσιν ἀμμέσον ἧπται | Κωκυτοῦ κλοιῷ λαιμὸν ἀπαγχόμενος. (Anth. Pal. 7, 377 = test. 2 Lightfoot)
(„Liegt auch Parthenios schon mit der schmutzigen Lästererzunge | unter der Erde, so gießt trotzdem noch Pech über ihn. | Hat auf die Musen er doch so oft die Flut seines Geifers | und seiner Spottelegien unreine Bosheit gespien. | Ja, er trieb seine Tollheit so weit, dass Homers Odyssee er | einen Morast, dass er Mist die Iliade genannt. | Darum würgten ihn auch mit dem Halsring die finstern Erinnyen | und umketteten ihn mitten im Schlamm des Kokyts.“ ÜS Beckby)
Homer und Parthenios konnten also sowohl zeitlich wie auch ästhetisch als Antipoden gelten, auch wenn sich hinsichtlich der Bewertung Homers und der Kykliker Unterschiede zeigen.
Welchen ästhetischen Kriterien folgt nun aber der knappe Literaturvergleich in Gell. 13, 27? Das erste griechische Zitat mit der Aufzählung von Meeresgottheiten entstammt wohl dem Propemptikon des Parthenios.9 Gellius stellt die Nachahmung als künstlerisch gleichwertig hin: Die beiden als „anmutig“ (vgl. venuste) bewerteten Modifikationen des Partheniosverses durch Vergil, die von Gellius für die ästhetische Äquivalenz der beiden Stellen geltend gemacht werden (itaque fecit … parem), betreffen Einzelwortersetzungen. Statt des Meergottes Nereus erscheint eine seiner Töchter, Panopea, und an die Stelle des Attributs εἰνάλιος tritt das Matronymikon Inous ein. Die metrische Gestaltung des vergilischen Verses zeigt einige „gräzisierende“ Besonderheiten.10 Die Verwendung möglichst vieler (griechischer) Eigennamen in einem Vers galt als Ausweis dichterischer Fertigkeit; in der Ersetzung εἰναλίῳ/Inoo kann man daher wohl eine Überbietungsabsicht Vergils erkennen. Richard Thomas11 hat plausible Gründe dafür vorbringen können, dass beide Änderungen – die auffällige Form Panopea (Πανόπεια) statt des homerischen Πανόπη12 und Inoo13 – durch Kallimachos angeregt worden sind. Damit läge in den Georgica die Verbindung zweier Modelle – Parthenios und Kallimachos – vor, was freilich von Gellius nicht eigens erwähnt wird.
Zwei spätere Varianten bzw. Zitate des Partheniosverses sind erhalten, die in einem komplexeren Verhältnis zu ihren Vorlagen stehen. Der unter Nero schreibende Epigrammatiker Lukillios beginnt eines seiner Epigramme mit den Worten: Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι καὶ Ἰνοῖ καὶ Μελικέρτῃ.14Anthologia Palatina6, 164 Hier ist ein klarer Bezug auf Parthenios intendiert, doch hat auch eine der Änderungen Vergils – der Ersatz von εἰναλίῳ durch Inoo – bei Lukillios eine Entsprechung. – Die Vergil-Parthenios-Parallele zitiert auch Macrobius, allerdings mit einer auffälligen Variante im griechischen Text: versus est Parthenii quo grammatico in Graecis Vergilius usus est: Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι καὶ Ἰνώῳ Μελικέρτῃ. hic ait: ‘Glauco et Panopeae et Inoo Melicertae’.15MacrobiusSat. 5, 17, 18 Es dürfte außer Frage stehen, dass Gellius den Partheniosvers so gelesen hat, wie er in den modernen Ausgaben erscheint: Gellius benennt ja eindeutig die beiden Stellen, an denen Vergil Änderungen vorgenommen hat (Νηρεῖ/Panopeae; εἰναλίῳ/Inoo).16 Nimmt man also an, dass der Wortlaut bei Gellius authentisch ist, so ist damit zu rechnen, dass Lukillios zu seiner Ersetzung (Ἰνοῖ καὶ anstelle von εἰναλίῳ) durch Vergils Versschluss Inoo Melicertae angeregt worden ist. Die Änderung bei Macrobius ist dann am Einfachsten als nachträgliche Angleichung der Vorlage an den Wortlaut der vergilischen Nachahmung zu erklären.17
Zum zweiten Verspaar: Die Kritik an Vergils Homeranleihe in Aen. 3, 119, die Gellius im Anschluss übt, wird durch die polaren Doppelausdrücke simplicior/sincerior vs. νεωτερικώτερος/quodam quasi ferumine inmisso fucatior eingeleitet. Mit dieser Opposition ist ein Gegensatz von alt und modern gemeint, den Gellius – ohne dies eigens hervorzuheben – wohl vor allem an der Verwendung des Attributs pulcher festmacht.18 Aeneas berichtet in diesem Vers von dem Stieropfer, das Anchises auf Delos vor der Abreise nach Kreta den Göttern Neptun und Apollo dargebracht hat. Verglichen mit dem homerischen Vorbild aus der Erzählung des Nestor im 11. Buch der Ilias unterscheidet sich Vergils Vers nämlich – sieht man von der Ersetzung der Götternamen ab – nur in zwei Punkten, nämlich der Apostrophe tibi19 und, wie bereits erwähnt, dem Attribut pulcher.
Es wäre denkbar, dass Gellius bei seiner kontrastiven Vergilkritik in 13, 27, 3 an einen der frühen Vergilkritiker – vielleicht Probus20 – gedacht hat, den er entweder direkt oder durch einen Kommentar vermittelt kennen konnte. Durch Servius sind noch Spuren der Kritik an Aen. 3, 119 kenntlich:
et quidam ‘pulcher Apollo’ epitheton datum Apollini reprehendunt; pulchros enim a veteribus exsoletos dictos; nam et apud Lucilium <frg. 27 Krenkel = frg. 23 Marx> Apollo pulcher dici non vult. (DServ ad Aen. 3, 119 = I 364, 27–28 Thilo-Hagen)
Die von Servius zitierten anonymen Kritiker beanstandeten Vergils Wortwahl, indem sie sich auf den zur Entstehungszeit der Aeneis geltenden usus beriefen, der dem Adjektiv einen anzüglichen Nebensinn unterlegt (pulcher ~ exoletus).21 Dieser beim Satiriker Lucilius durch den Gott Apollo persönlich gerügte Wortgebrauch lässt sich etwa auch beim Neoteriker Catull beobachten.22 Tatsächlich wird das Attribut, wenn von Apollo die Rede ist, in der lateinischen Dichtung in der Regel vermieden – die bei Servius dokumentierte Kritik an Vergils Vers ist also wohl zutreffend.23
Freilich ist von einem anzüglichen Nebensinn bei Gellius nicht die Rede. Wenn er Aen. 3, 119 als νεωτερικώτερος bezeichnet, so rückt er zunächst einmal die zeitliche Distanz zu Homer in den Vordergrund. Die Metapher von der geschminkten Rede (fucata oratio), die Gellius bei seiner Erläuterung des Sachverhalts bringt, ist ganz in diesem Sinn gebraucht: Sie lässt sich seit Seneca in der lateinischen Literatur nachweisen und impliziert eine diachrone Komponente, nämlich die Abgrenzung des verkommenen modernen vom natürlichen alten Stil.24 Tacitus verwendet sie etwa ganz ähnlich wie Gellius, wenn er im Dialogus Messalla die Impulsivität bzw. würdevolle Reife (impetum aut … maturitatem) von früheren Rednern wie C. Gracchus oder L. Crassus der verfeinerten Künstelei und dem