Geist & Leben 1/2022. Verlag Echter
und bürokratisierten Welt wurden der Völkermord und die Ausrottung „überflüssig“ erscheinender Bevölkerungsgruppen geräuschlos und ohne moralische Empörung der Öffentlichkeit zur Gewohnheit. Die Einzigartigkeit des Holocaust erblickte Arendt im Fehlen jeglicher moralischer Dimension und damit in der ausschließlich bürokratischen Natur des Vorgangs. Persönliche und moralische Mediokrität des Angeklagten veranlasst zur Schlussfolgerung, die im Untertitel des Buches aufgenommen ist: Banalität des Bösen. Eichmann hat sich nie vorgestellt, was er eigentlich anstellt. Seine Handlungen und Entscheidungen waren banal, gedankenlos, vordergründig ohne teuflisch dämonische Tiefe. „Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte.“17 Eichmann entschuldigt sich damit, dass er nicht als Mensch, sondern als bloßer Funktionär gehandelt habe.
Hannah Arendt kritisiert die Dominanz der Statistik und der Zahlen in unserem Zugang zur Wirklichkeit. Wenn Gleichheit und Symmetrie herrschen, steht das Fremde unter dem Vorzeichen der Negation. Die Wahrnehmung des Anderen geschieht unter der Perspektive der Verdächtigung, Anfeindung, Ablehnung, Verurteilung oder Unterwerfung. Die abstrakte Immunisierung des Subjekts von der geschichtlichen Realität und dabei von der Begegnung mit dem konkret Anderen landet in ideologischer Verblendung.
Compassion
Für Papst Franziskus gehört eine elementare Leidempfindlichkeit und Leidenschaft für die Mitwelt zum Humanum.18 Johann B. Metz sieht in der Gerechtigkeit suchenden Compassion ein Schlüsselwort im Zeitalter der Globalisierung. Compassion ist angebracht angesichts der politischen, sozialen und kulturellen Konflikte in der heutigen Welt. Fremdes Leid wahrzunehmen gehört zur Friedenspolitik, zur sozialen Solidarität hinsichtlich des eskalierenden Risses zwischen Arm und Reich. Freiheit ohne Mitleid, ohne Empathie wird zur Tyrannei, Mitleid ohne Macht zur Verdoppelung des Unglücks. Es geht um Empathie, Einfühlungsvermögen und Offenheit, die auch an den Leiden, Ängsten und dem Versagen des Anderen teilnehmen kann.
Allerdings: Manchmal dienen Trauer, Betroffenheit und Leidensdruck nicht nur der Anteilnahme, sondern auch Strategien der Immunisierung eigener Interessen und der Distanzierung von Ansprüchen. In den zwischenmenschlichen Bereichen ist zunehmend eine Teilnahmslosigkeit und Interesselosigkeit zu bemerken, Berührungstabus gegenüber allem, was nach Schmerz, Leid, Trauer, Krankheit, Alter und Tod riecht. Gegen Tränen, die geweint werden müssten, gibt es Tabletten. Gefühlsstimulierungen werden in den Konsumbereich hineinverlagert. Die „Unfähigkeit zu trauern“ (A. Mitscherlich) geht Hand in Hand mit dem Verlust an Sehnsucht und führt zur Reduktion des Menschen auf seine Bedürfnisse und Funktionen. Die Gesellschaft wird zur Erfolgs- und Siegergesellschaft, die in den menschlichen Kontakten verarmt. Letztlich wird die Verdrängung von Trauer mit einem Wirklichkeitsverlust erkauft. Die Tiefen und Abgründe werden dann nicht mehr berührt, in oberflächlichen Beziehungen werden keine Spannungen mehr ausgehalten. Eine falsche Indifferenz erklärt Leid, Mitleid und Trauer als Schwächen einer noch nicht zur Reife gelangten menschlichen Natur.
Johann B. Metz spricht sich gegen Trauer- und Melancholieverbote in der Arbeits-, Leistungs- und Siegergesellschaft aus: „Trauer ist kein Schwächeanfall der Hoffnung, es sei denn, man missverstehe die Hoffnung als eine Spielart von pausbäckigem Optimismus. Trauer ist Hoffnung im Widerstand (…) im Widerstand gegen das Vergessen und gegen jenes Vergessen des Vergessens, das bei uns den Namen ‚Fortschritt‘ und ‚Entwicklung‘ trägt; im Widerstand gegen den Versuch, alles Entschwundene und unwiederbringlich Vergangene zum existentiell Bedeutungslosen herabzustufen, also im Widerstand gegen den Versuch, dem Wissen des Menschen um sich selbst das Vermissen auszutreiben.“19 Bei der Trauer geht es um die Empfänglichkeit für die vergangenen Leiden, also um eine Solidarität nach rückwärts mit den Toten und Besiegten.20
Ethik der Sinne und der Berührung
Papst Franziskus macht darauf aufmerksam, „dass auch dem Spüren und den Sinnen eine eigene Würde und Bedeutung zu eigen ist.“ Er will „Denken und Spüren aufeinander bezogen wissen, denn ohne Gespür könnte das Denken und auch die Vernunft kalt und herzlos werden. Wir können Freude und Barmherzigkeit unterschiedlich verstehen, aber wenn wir sie nicht leibhaftig und das heißt eben auch körperlich erfahren haben, bleiben diese Begriffe hohl und leer.“21 Und so betont er: „Eine Kirche, die Mutter ist, geht auf dem Weg der Zärtlichkeit. Sie kennt die Sprache der großen Weisheit der Liebkosungen, der Stille, des Blicks, der Mitleid, der Stille zum Ausdruck bringt. Und auch eine Seele, eine Person, die diese Zugehörigkeit zur Kirche in dem Wissen lebt, dass sie auch Mutter ist, muss auf demselben Weg gehen: ein sanfter, zärtlicher, lächelnder Mensch voller Liebe.“22
Der Soziologe Hartmut Rosa23 hat die „Resonanz“ als wesentliche Kategorie unseres Zugangs zur Welt herausgearbeitet. Resonanzbeziehungen sind das Suchen und Finden von „Widerhall“ in der Welt, aber auch in den Herzen der Menschen. Resonanzbeziehungen bedeuten ein wechselseitiges Berühren und Berührtwerden. Allen Resonanzerfahrungen wohnt – so Rosa – ein unaufhebbares Moment der Unverfügbarkeit inne. Wenn man diese Beziehungen zu kontrollieren oder über sie zu verfügen sucht, zerstört man sie.
Dimensionen von Zärtlichkeit
Papst Franziskus spricht in seiner Enzyklika Laudato sí von einer universalen Gemeinschaft und Geschwisterlichkeit. Gleichgültigkeit oder Grausamkeit gegenüber den anderen Geschöpfen dieser Welt spiegeln viel von dem wider, wie wir die anderen Menschen behandeln. Die „gleiche Erbärmlichkeit, die dazu führt, ein Tier zu misshandeln, zeigt sich unverzüglich auch in der Beziehung zu anderen Menschen. Jegliche Grausamkeit gegenüber irgendeinem Geschöpf widerspricht der Würde des Menschen. (…) Alles ist aufeinander bezogen, und alle Menschen sind als Brüder und Schwestern gemeinsam auf einer wunderbaren Pilgerschaft, miteinander verflochten durch die Liebe, die Gott für jedes seiner Geschöpfe hegt und die uns auch in zärtlicher Liebe mit Bruder Sonne, Schwester Mond, Bruder Fluss und Mutter Erde vereint.“ (LS 92) Der Dialog zwischen den Religionen, mit der Wissenschaft und zwischen den Ökologiebewegungen muss „auf die Schonung der Natur, die Verteidigung der Armen und den Aufbau eines Netzes der gegenseitigen Achtung und der Geschwisterlichkeit ausgerichtet sein. (…) Die Schwere der ökologischen Krise verlangt von uns allen, an das Gemeinwohl zu denken und auf einem Weg des Dialogs voranzugehen, der Geduld, Askese und Großherzigkeit erfordert.“ (LS 201)
Ihren zentralen Ort hat die Zärtlichkeit für Papst Franziskus in der interpersonalen Liebe. Vor allen kasuistischen Fragen des Sollens, Müssens oder Nicht-Dürfens steht im nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia24 die Zärtlichkeit im Fokus: „Liebe ist (…) Respekt: Liebe hütet das Bild des/der anderen mit Feingefühl.“ (AL 122) Liebe wird geradezu durch respektvolle Zärtlichkeit charakterisiert (vgl. AL 283). „Am Horizont der Liebe, die in der christlichen Erfahrung der Ehe und der Familie im Mittelpunkt steht, zeichnet sich auch noch eine andere Tugend ab, die in diesen Zeiten hektischer und oberflächlicher Beziehungen etwas ausgeklammert wird: die Zärtlichkeit.“ (AL 28) Mit Ps 131; Ex 4,22; Jes 49,15 und Ps 27,10 beschreibt der Papst die Verbindung zwischen Gott und Mensch mit Wesenszügen der Vater- oder der Mutterliebe. Es ist „die zarte und sanfte Vertrautheit, die zwischen der Mutter und ihrem Kind, einem Neugeborenen, besteht, das in den Armen seiner Mutter schläft, nachdem es gestillt worden ist.“ (ebd.) Der Prophet Hosea legt Gott als Vater die bewegenden Worte in den Mund: „Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb (…). Ich war es, der Efraim gehen lehrte, ich nahm ihn bei der Hand (…). Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, mit den Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die [Eltern], die den Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen (11,1.3–4).“ (vgl. ebd.)
Überraschend situiert Papst Franziskus die Zärtlichkeit auch in der Politik: Es geht um eine universale Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft, um eine Liebe, die nah und konkret ist. „Auch in der Politik gibt es Raum, um mit Zärtlichkeit zu lieben. ‚Was ist die Zärtlichkeit? Sie ist die Liebe, die nah und konkret wird. Sie