Bildung und Glück. Micha Brumlik

Bildung und Glück - Micha Brumlik


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Menschen umfaßt und daß das Wort Menschengeschlecht ihm etwas bedeutet. Nein, diese Empfindsamkeit wird sich zunächst auf seinesgleichen beschränken, und seinesgleichen werden keine Unbekannten für ihn sein, sondern diejenigen, mit denen er Verbindungen hat, diejenigen, welche ihm die Gewohnheit lieb und notwendig gemacht hat, diejenigen, welche augenscheinlich ebenso denken und empfinden wie er, diejenigen, die er den gleichen Leiden, die er gelitten hat, ausgesetzt sieht und die für die gleichen Freuden, die er genossen hat, empfänglich sind – mit einem Worte, diejenigen, bei denen die natürliche Gleichheit augenfälliger ist und ihm eine größere Neigung zu lieben gibt.“9

      Die auf der Basis identifikatorischer Prozesse stattfindende affektive Bindung Gleichartiger führt zu einer partikularen Solidarität, die die notwendige Bedingung zur Ausbildung einer universalistischen Moral hier und einer entfalteten Individualität dort ist, die sich im Prozeß ihrer Herausbildung wechselseitig bedingen. Rousseau fährt fort: „Er wird erst nachdem er sein Naturell auf tausenderlei Art entwickelt hat, erst nach vielen Betrachtungen über seine eigenen Gefühle und über diejenigen, die er an anderen beobachten wird, dahin gelangen, daß er seine einzelnen Vorstellungen unter dem abstrakten Begriff der Menschheit verallgemeinert und seinen besonderen Neigungen diejenigen hinzufügt, durch die er sich mit seiner Art zu identifizieren vermag.“10

      Dabei rechnet Rousseaus pädagogische Anthropologie stets mit einem angeborenen Egozentrismus, einer Eigenliebe, der in seiner „natürlichen“ Form als „Selbstliebe“ – „amour de soi“ bezeichnet wird und in seiner denaturierten Form in „Eigenliebe“ – „amour propre“ umschlägt. Grundsätzlich äußert sich auch in geistigen und moralischen Interessen, die in den Haltungen der Tugend ihren Ausdruck finden, eine Art der „Selbstliebe“. Geistige und moralische Interessen beziehen sich „allein auf uns selbst, auf das Wohl unserer Seele, auf unser absolutes Wohl. Es ist ein Interesse, das wesentlich mit unserer Natur zusammenhängt und deshalb auf unser wirkliches Glück gerichtet ist.“11

      Damit hat Rousseau, der sich in seiner politischen Theorie als Erbe wesentlicher römischer Traditionen verstanden hat,12 den von der antiken Philosophie postulierten Zusammenhang von Tugend und Selbstliebe wieder aufgenommen – eine Thematik, die die moderne Moralphilosophie zerrissen hat und die derzeit erneut auf der Agenda steht. Freilich scheint die Aufnahme von Kategorien des aufgeklärten Eigeninteresses in eine Theorie der Moral der Moderne fremd – allenfalls in Begründungsdiskursen formal universalistischer Moralen wie in John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit soll ein prudentialer Diskurs eine eher methodologische Funktion übernehmen13 Hinter dieser Nichtberücksichtigung des Eigeninteresses in einer modernen Theorie der Moral steht ein massives moralisches und methodisches Problem, das erst in letzter Zeit aufgefallen ist und seither systematisch bearbeitet wird14 Ellen Key forderte in einer Radikalisierung von Rousseaus Sentimentalismus, daß „eine neue Menschheit hervorgeliebt werden“ solle, und nahm damit das antike Thema einer perfektionierenden Bildung wieder auf, nachdem Christentum und Aufklärung entweder auf Erziehung als Normierung oder auf Bildung zur Mündigkeit setzten.

      Der Perfektionismus ist eine ethische Theorie, die als höchstes Gut allen menschlichen Lebens die Selbstvervollkommnung ansieht. Theorien der Perfektionierung und vor allem der Selbstperfektionierung, die vermeintlich unablösbar der Gedankenwelt der Antike angehören, sind in den letzten Jahren nicht nur im Rahmen etwa der humanistischen Psychologie wiederbelebt worden, sondern auch und gerade in der Philosophie, und zwar besonders in ihrem angelsächsischen, dem sprachanalytischen Vorgehen verpflichteten Strang. Daß es dazu einer Wiederbesinnung auf das US-amerikanische, das pragmatistische Erbteil bedurfte, kommt nicht von ungefähr. Ralph Waldo Emerson, der zum wesentlichen Anreger für die Arbeiten von Stanley Cavell15 wurde, war nicht nur eine Quelle für Friedrich Nietzsche, sondern kann selbst als Erneuerer des Tugenddiskurses16 gelten. In Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit findet sich in den späteren, seltener gelesenen, aber systematisch unerläßlichen Kapiteln eine entfaltete Theorie des guten Lebens, die in unterschiedlicher Form z. B. in die neuere politische Philosophie, etwa multikultureller Gesellschaften, eingegangen ist17 Ohne eine Theorie des Guten als des Vernünftigen ginge Rawls das Problem, das er mit seiner Theorie der Gerechtigkeit lösen wollte, verloren. Schließlich hat Alan Gewirth eine umfassende, systematische Arbeit zur Frage menschlicher Selbstentfaltung vorgelegt, die bei aller Strenge der Terminologie doch jenen existentiellen Kern freilegt, um den es aller Ethik geht. Spätestens mit dieser Untersuchung,18 aber auch nach neueren deutschen Beiträgen zu einer „Philosophie der Lebensgeschichte“,19 dürfte denn auch deutlich werden, daß die Versuche der Theorie autopoietischer Systeme, Biographien ohne ein Moment teleologischer Narrativität verstehen zu wollen, aus systematischen Gründen zum Scheitern verurteilt sind.

      Die neuere philosophische Diskussion unterscheidet terminologisch zwischen Ethik und Moral, zwischen teleologischen und deontologischen, zwischen Güter. und Pflichtethiken. Moralische Theorien sind Theorien, die das, was allen Menschen unbedingt geboten ist, ermitteln wollen. Das sind in aller Regel unparteiisch eingeführte Gerechtigkeitsgrundsätze, d.h. Prinzipien für eine angemessene Verteilung von Gütern und Übeln. Der „moral point of view“20 zeichnet sich – wie die Allegorie der Gerechtigkeit – dadurch aus, daß er bestimmten Interessen gegenüber systematisch blind ist. Auch Güterethiken interessieren sich für das, was allen Menschen gemein ist. Im Unterschied zu Pflichtethiken und im Unterschied zur Moral geht es ihnen aber nicht um die Frage, was unbedingt gerecht und daher geboten ist, sondern um die Frage, zu welchem Zweck Menschen überhaupt leben. Erst Güterethiken können (vielleicht) eine Frage beantworten, vor der die Moral in ihrem eigenen Bezugssystem verstummen muß: Warum soll ich überhaupt im Hinblick auf Gerechtigkeit handeln, warum überhaupt irgendwelchen Pflichten folgen? John Rawls, dessen begriffliche Mittel in diesem Kontext zureichen, unterscheidet zwei Formen des Perfektionismus. Ein Perfektionsprinzip sei in seiner strengen Lesart „der einzige Grundsatz einer teleologischen Theorie, die die Gesellschaft anweist, Institutionen, Pflichten und Verpflichtungen so festzulegen, daß die menschlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und Kultur maximiert werden.“21 Der von Rawls als Alternative erwogene gemäßigte Perfektionismus nimmt ein Perfektions- prinzip hingegen nur als ein Prinzip unter mehreren, das im Vergleich zu diesen sorgfältig abzuwägen sei.

      Die sicherlich radikalste und bekannteste Variante des Perfektionismus findet sich im Werk Friedrich Nietzsches und seiner Idee vom Übermenschen, von der „blonden Bestie“ gar, eine Theorie, die keineswegs nur mißverständlich zum Hintergrund des europäischen Faschismus und Rassismus gehört. Daß Richard Strauss’ Tondichtung „Zarathustra“ Stanley Kubricks Film „2001“ an entscheidender Stelle instrumentiert, ist keiner effekthaschenden Absicht zuzuschreiben, sondern dem philosophischen Grundgedanken dieses Films, der mit dem Aufstieg des Menschen aus der Lebensform von Voraffen beginnt, um nach einer langen Weltgeschichte in einem kosmischen Baby zu enden: In der von Kubrick inszenierten überwältigenden Bilderwelt wird die Geschichte der Menschheit als Übergangsgeschehen dargestellt, gerade so, wie Nietzsche Kants Gedanken des Menschen als eines Selbstzweckes dementierte und damit auch in der Moralphilosophie einer radikalen Moderne zum Durchbruch verhalf: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. […] Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist […]. Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, daß der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“22

      Systematisch widerruft Nietzsche in dieser Passage einen zentralen Lehrsatz der Moral der Aufklärung, nämlich Kants in der Metaphysik der Sitten ausgeführtes Prinzip, nach dem „der Mensch sowohl sich selbst als auch anderen Zweck“ ist und er daher „weder sich selbst noch andere als Mittel zu brauchen befugt ist, […] sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.“23

      Und so läßt sich fragen: Wenn der Mensch kein Zweck ist, was ist dann überhaupt ein Zweck? Wenn der Mensch eine Brücke ist, dann ist er ein Mittel; offen bleibt lediglich die Frage, wozu? Und wenn es einen Zweck gibt, zu dem der Mensch ein Mittel ist, worin besteht dieser Zweck dann und wer setzt ihn sich


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