Bildung und Glück. Micha Brumlik

Bildung und Glück - Micha Brumlik


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– bestehe darin, „Ewig- keitsmenschen“ zu bilden, womit Nietzsches radikaler Modernismus mit seinem Glauben an die konstitutive, willkürliche Offenheit des Menschen aufgegeben und einer naturwissenschaftlich erweiterten Form des antiken Perfektionismus das Wort geredet wird. Allen Erschütterungen der Moderne zum Trotz gewinnt der Kosmos hier im ganzen nun wieder genau den Sinn, den er in der griechischen und biblischen Religion auch schon hatte. Obwohl es Key gelingt, die vermeintliche Widersprüchlichkeit von individuellem Glücksanspruch und gattungsbezogener Höherbildung zu überwinden, bleibt die Kluft zwischen zwei axiologischen Prinzipien, dem individuellen Glück und dem Selbstwert des Neuen, bestehen. Diese Spannung sollte ihren Niederschlag dort finden, wo nietzscheanische und dar- winistische Gedanken eine radikal emanzipatorische Politik instrumentierten – ein Einsatz, der heute kaum noch nachzuvollziehen ist.

      Die systematische Wiederaufnahme der Kategorie des Eigen- interesses aber führt gegenwärtig auf der Linie von Aristoteles zu Rousseau direkt zur Neuformulierung einer Ethik der Tugenden39 Der Verdacht, daß diese Renaissance sowohl in der Sache als auch in der Wahl ihrer Begriffe zu Regressionen führt, scheint dabei nicht unbegründet40 „Tugend“ – dieser Begriff weckt einerseits unangenehme Erinnerungen an eine muffige Sexualmoral und provoziert andererseits aufgeklärte Distanz zu einem schönheitstrunkenen Übermenschentum. „Tugenden“ – das scheinen Charaktereigenschaften zu sein, die als Gewissen in erzwungene Jungfräulichkeit oder als „virtú“41 in selbstsüchtiges Haschen nach Ruhm münden. Diese Assoziationen treffen zu und verfehlen doch die Sache, um die es geht.

      Um den Mißkredit, in den die Tugenden und ihre Theorie geraten sind, richtig zu verstehen, ist es unerläßlich, jene Zeit in den Blick zu nehmen, als sie erstmals veraltet schienen. Dieses Veralten hat seinen Ausdruck nicht zufällig in einer Kunstform gefunden, die wie keine andere der Artikulation der Leidenschaft dient – der Oper. Ihre Geschichte beginnt mit Jacopo Peris inzwischen verlorengegangener „Dafne“, die vor mehr als vierhundert Jahren 1597/98 in Florenz uraufgeführt wurde und dem Zweck diente, eine zeitgemäße Wiedergeburt der antiken Tragödie in der Sprache der Musik zu inszenieren. Mit dem musikalischen Werk des Mantovaner Hofmusikers Claudio Monteverdi erreichte die Gattung gleich zu Beginn ihren ersten Höhepunkt und zeichnete die Linien für alle künftige Entwicklung vor. Seither kreist die Oper um zwei Themenbereiche, um Liebe und Politik42 In der im Jahr 1607 uraufgeführten Oper „Orfeo“ nimmt sich Monteverdi des Mythos von der den Tod überwinden wollenden, aber darin scheiternden Liebe an, während die 1643 uraufgeführte „Krönung der Poppäa“ Liebe und Leidenschaft als Instrumente zur Erhaltung und Sicherung von Macht zeigt. Der Prolog zu dieser Oper besteht aus einem Dialog zwischen fortuna, virtu und amore, zwischen Glück, Tugend und Liebe.

      „Deh, nasconditi o virtu, gia caduta in poverta“ – „Ach verbirg dich o Tugend“, hält die Allegorie des Glücks der Tugend entgegen, „die du längst in Armut gefallen bist, Gottheit, an die keiner glaubt, Gottheit ohne Tempel, Gottheit ohne Gläubige und Altäre, davongejagt, unzeitgemäß, verabscheut, unerwünscht“ – „…dissipata, dis- susata, aborrita, mal gradita.“ Die Tugend beschimpft in ihrer Antwort das Glück, jenes niedriggeborene, vor allem den Dummen holde Wesen, um sich selbst als ein reines unbestechliches Wesen zu preisen, das Gott vergleichbar sei. Beider Konkurrenz wird schließlich durch den Machtspruch des Gotts der Liebe, Amors, geschlichtet, der beide zu besiegen ankündigt und darauf wettet, daß die Welt allein durch seinen Wink verändert werde. Der Tugend, so wie sie in Monteverdis Oper auftritt, eignet von Anfang an ein belehrendes, pädagogisches Element: „Io sogn la tramontana, che sola insegno agl’intelletti humani l’arte del navigar verso l’Olimpo“ – „Ich allein bin der Nordwind, der den menschlichen Geist die Kunst lehrt, zum Olymp zu schiffen.“

      Die „Tugend“ – handelt es sich bei ihr um eine Größe, die schon vor 350 Jahren in der norditalienischen Renaissance in ihrem unheilbaren Pädagogisieren als veraltet gelten mußte? Von welcher Art der Tugend ist in Monteverdis Oper die Rede? Die Tugend, die hier im Wettstreit mit Glück und Liebe unterliegt, repräsentiert eine bestimmte, stoische Ausprägung des Tugendbegriffs. Die Stoa ist eine der fünf auf Sokrates, Platon und Aristoteles folgenden philosophischen Positionen der späteren Antike: Skepsis, Atomismus, Epikuräismus, Kynismus und eben Stoizismus stellen sich der zentralen Frage griechischen Philosophierens,43 der Frage nach dem richtigen Leben als der Frage nach der Möglichkeit des Glücks.44 Diese Frage, die sich ebenso wie die Frage nach der Metaphysik nicht in der biblischen, der jüdischen und christlichen Tradition findet, spürt den Lebensmöglichkeiten des Individuums nach und geht – wiederum im Unterschied zur biblischen Tradition – im Grundsatz davon aus, daß es den Menschen wesentlich selbst gegeben ist, ihr Leben zu gestalten. Wo die biblische Tradition sich wesentlich der Frage des Unglücks und damit der Frage der Theodizee zuwendet, stellt die antike Tradition die Frage nach einer Anthropodizee des Glücks in ihr Zentrum. Sie beginnt dabei mit metaphysischen Annahmen, mit Annahmen über das Wesen des Kosmos und eines seiner Bestandteile, eben der menschlichen Natur in ihrem kontingenten und riskanten Wechselspiel mit anderen Menschen und der nichtmenschlichen Natur. Kynismus, Epikuräismus, Skepsis und Stoa unterscheiden sich dabei nicht in ihrer Zielsetzung, die in allen Fällen die menschliche Glückseligkeit in den Mittelpunkt stellt, und auch nicht darin, daß sie die Tugend oder die Tugenden als die wichtigste Voraussetzung für ein gelungenes, ein glückliches Leben ansehen. Die entscheidenden Unterschiede dieser philosophischen Schulen bemessen sich an der Einstellung nicht zu den Gesetzen der Natur, sondern zu den Gesetzen der Menschen – die etwa von den Kynikern im Grundsatz abgelehnt werden – und der Frage nach dem Verhältnis von Glück, Lust und Freiheit. Sind Lust und Freiheit miteinander zu verbinden? Sind Glück und Freiheit in letzter Instanz miteinander vereinbar? Lassen sich die pathischen Anteile der Seele, also die menschlichen Leidenschaften, sinnvoll in das Ganze eines Lebens integrieren, oder ist ihnen nur durch Distanz oder Beherrschung beizukommen? In pädagogischer Hinsicht scheint die Antwort von allem Anfang an eindeutig zu sein. Die bei Platon getroffenen Entscheidungen wirken bis heute fort. Der Begriff der „Tugend“ steht bei ihm vor allem für ein Programm wert- und ideenbezogener Einschränkungen, für die säuberliche Trennung von Affekt und Autonomie.

      Daher ist es kein Zufall, daß das Thema der Tugend in der Erziehungswissenschaft gelegentlich dort auftaucht, wo sie sich der Entwicklung des menschlichen Lebenslaufs im ganzen zuwendet, vornehmlich in der Theorie der Erwachsenenbildung. Tatsächlich hat sie stets dem Verhältnis von Bildung und Bildungssoziologie, von Erwachsenensozialisation und erwachsener Existenz nachgespürt und dabei – im Fall erwachsener Menschen, die im Idealfall ihr Leben eigenverantwortlich führen – dem Bildungs- vor dem Sozialisationsgedanken Priorität eingeräumt. Das mag der speziellen Sache geschuldet sein. Stärker als andere pädagogische Subdisziplinen nämlich erfordert die Erwachsenenbildung die Einbeziehung sowohl wissenschaftlichen als auch alltäglich gegründeten Reflexionswissens. Dabei scheint der philosophischen Ethik eine besondere Rolle zuzukommen. Philosophische Theorien der Ethik haben es an sich, daß sie einerseits methodisch ungeschützt, und darin dem Alltagswissen nahestehend, Fragen stellen können, die die Wissenschaft nicht mehr stellen darf, und daß sie sich andererseits, darin der Wissenschaft nahestehend, von allem Vorverständnis radikal distanzierend auf das einlassen müssen, was den Alltagsverstand, auch und gerade den wissenschaftlich gebildeten, brüskieren muß. In einem klassischen Beitrag zum Verhältnis von Sozialisationstheorie, Sozialwissenschaften und Didaktik der Erwachsenenbildung findet sich ein auffälliger Verweis45 auf ein weiter nicht vermitteltes oder erläutertes Zitat aus Platons Dialog Menon, dem letzten der frühen Dialoge. Hier fragt Menon: „Kannst du mir wohl sagen, Sokrates, ob die Tugend gelehrt werden kann? Oder ob nicht gelehrt, sondern geübt? Oder ob sie weder angeübt, noch angelernt werden kann, sondern von Natur den Menschen einwohnt oder auf irgendeine Art.“46

      So die Eingangssequenz eines Platonischen Dialoges, der sich unter Pädagogen deshalb besonderer Beliebtheit erfreut, weil in ihm mit der Anamnesislehre die Frage kognitiver Lernkonzepte angesprochen wird. Man würde den Menon jedoch mißverstehen, läse man ihn als erkenntniskritischen Traktat; tatsächlich geht es Platon um ein eminent praktisches Problem – um die Lehrbarkeit der Tugend. Wie in den frühen Dialogen üblich, endet auch dieser Dialog aporetisch, die Leserinnen und Leser bleiben um viele Fragen reicher, aber um einige Antworten ärmer zurück:


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