Bildung und Glück. Micha Brumlik
Gemeinwesens, sondern auch der für ihre Gesellschaft bedeutsamen anderen Gemeinwesen wenigstens ansatzweise kennen und verstanden haben. Historische Kenntnisse vermitteln zudem eine gewisse Einsicht in die Geschichtlichkeit auch von für absolut gehaltenen Wertsetzungen, eine Einsicht, die keineswegs zum Relativismus führt, jedoch vor naivem, unreflektiertem Bejahen der je eigenen Lebensform schützen kann.
3.Wirkliche Freiheit, also individuelle Freiheit, die ihren Namen verdient, aber besteht – zumindest nach Hegel – in einer rechtlich institutionalisierten Demokratie, in der die Individuen ihren Interessen in möglichst moralisch aufgeklärter Weise nachgehen können. Daher gehört zu einer allgemeinen Bildung nicht nur die je altersgerecht präsentierte Kenntnis dessen, was Recht und was eine Demokratie ist, sondern auch das Einüben moralischer Sichtweisen durch moralische Argumentation, wie sie etwa Lawrence Kohlberg18 vorgeschlagen hat, ohne dabei zu verkennen, dass eine nur sprachlich geübte moralische Argumentation ohne die Möglichkeit, im Blick auf zu verantwortende Folgen zu urteilen, lediglich sophistische Wortverdreherei, nicht aber moralische Einsichten fördert. Am Ende eines solchen allgemein bildenden Prozesses sollten bei den Individuen Strukturen und Kompetenzen mindestens einer konventionellen Moral, die das in westlichen Demokratien bestehende Rechts- und Normensystem stützt, verankert sein, wenn nicht sogar Elemente einer postkonventionellen Moral, die jenseits von gesetztem und positiviertem Recht autonome Prinzipien der Moral wie etwa Kants kategorischen Imperativ einsichtig erworben hat.
Die empirische Jugendforschung belehrt uns seit Jahren darüber, dass derzeit nicht nur die Jugend der unteren Schichten, sondern zusehends mehr auch die Jugend der Mittelschichten westlicher Gesellschaften, bedrängt sowohl von sozialen Abstiegsängsten als auch des anfangs genannten, an den Universitäten durchgesetzten Leistungsdrucks, jene Kenntnisse und Kompetenzen, die es zu einem Leben in institutionalisierter Freiheit bedarf, preisgeben. Derzeit zeichnet sich eine neue Unmündigkeit, eine willenlose Bereitschaft, Systemanforderungen zu willfahren, ab; eine Unmündigkeit, die mit dem Begriff des „Autoritarismus“ und des „autoritären Charakters“ falsch charakterisiert wäre. Vielmehr passt auf diese, neuerdings zu beobachtenden Phänomene ein soziologisches Konstrukt, das erstmals in den 1950er Jahren zur Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft entwickelt wurde. David Riesmans in seinem Buch „Die einsame Masse“19 entwickelte Begrifflichkeit von „außen“-bzw. „innengeleitetem“ Mensch trifft die Situation genauer und wird nicht zuletzt den Dispositionen im Zeitalter einer radikal veränderten, digitalisierten Öffentlichkeit20 thematisch.
Ein im hegelschen Sinn politisch verstandenes Konzept von Allgemeinbildung könnte dazu beitragen, Individuen dabei zu helfen, Systemimperativen angstfrei und im Wissen um eine vernünftig gestaltete gesellschaftliche Wirklichkeit zu widerstehen. Wo, so werden Sie sich nun fragen, bleibt aber bei alledem der Begriff der Anerkennung? Auf jeden Fall: Für Hegel galt unbedingt: „Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung.“ Im Paragraphen 387 der „Enzyklopädie“ hebt Hegel noch einmal hervor, dass jenes, das den Begriff „Geist“ zu Recht verdient, sich seinem Begriffe nach als „bildend und erziehend“ betrachtet.21
4.Hegel oder Fichte?
Eine bildungstheoretisch informierte Theorie der Anerkennung wird sich daher zu Recht vor allem auf die von Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“22 entfaltete Theorie des Kampfes um Anerkennung sowie die von ihr geprägte Theorie der Bildung beziehen.23 Dabei kann sie sich auf Arbeiten stützen, die den „Kampf um Anerkennung“ als Sammelbegriff für eine „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ auf der Basis neuerer sozialwissenschaftlicher Überlegungen rekonstruieren.24 Freilich war der Hegel der 1806 erstmals gedruckten „Phänomenologie“ weder der erste noch der einzige seiner Generation, der sich mit der Thematik der Anerkennung auseinandergesetzt hat. Damit komme ich auf das anfangs vorgetragene Zitat zurück, das noch einmal wiederholt sei; indes:
„Nur wolle man ja nicht … glauben, daß der Mensch erst jenes lange und mühsame Raisonnement anzustellen habe, welches wir geführt haben, um sich begreiflich zu machen, daß ein gewisser Körper außer ihm einem Wesen seines Gleichen angehöre. Jene Anerkennung geschieht entweder gar nicht, oder sie wird in einem Augenblicke vollbracht, ohne daß man sich der Gründe bewußt wird. Nur dem Philosophen kommt es zu, Rechenschaft über dieselben abzulegen.“25
Vor Hegel also hat sich bereits Johann Gottlieb Fichte in seiner „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Sittenlehre“26 im Jahr 1796 dieser Frage zugewendet.
Fichtes Überlegungen27 sind für eine pädagogische Theorie der Anerkennung und damit einer nur intersubjektiv möglichen Bildung in mehrfacher Hinsicht von Interesse:
1.hat Fichte – klarer als Hegel – seine Anerkennungstheorie unmittelbar auf Intersubjektivität hin angelegt und darauf verzichtet, seine Theorie der Anerkennung – wie Hegel es tat – zugleich religionstheoretisch und gesellschaftsgeschichtlich einzubetten;
2.hat Fichte ein deutliches Bewusstsein davon, dass „Anerkennung“ eine vorreflexive Gegebenheit des sozialen Lebens von Menschen ist, die die Philosophie nur nachzuzeichnen, aber nicht zu begründen hat;
3.sind bei Fichte die vorsprachlich leiblichen Aspekte dessen, was „Anerkennung“ bedeuten kann, deutlicher herausgearbeitet als bei Hegel. Damit legt Fichte einen Ansatz vor, der vertragstheoretischen und dezisionistischen Missverständnissen der Anerkennungstheorie für den Bereich des sozialen Lebens – im Unterschied zur Rechtssphäre – von Anfang an den Weg verstellt.28
4.Fichtes intersubjektivistische Theorie der Freiheit und der Selbstbestimmung ist von Anfang an im weitesten Sinne „pädagogisch“. Menschliche Wesen, die gar nicht anders können, als sich wechselseitig die Fähigkeit zum freien Handeln zuzuschreiben, kommen auch nicht umhin, sich zur freien Selbsttätigkeit aufzufordern:
„Die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man Erziehung nennt. Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, außerdem würden sie nicht Menschen.“29
Indem Fichte – deutlicher noch als vor ihm Kant – autonome Subjektivität mit guten Gründen nicht abstrakten Vernunftwesen, sondern den Angehörigen der Gattung Mensch zuschreibt und damit einen normativen Begriff des Menschen postuliert, legt er zugleich eine pädagogische Anthropologie vor, die auf einem vorsprachlichen und leibbezogenen, nicht nur dezisionistischen Anerkennungsbegriff beruht. Dieser leibbezogene Anerkennungsbegriff erheischt einen theoretisch entfalteten Begriff vom „Menschen“, der in den letzten Jahrzehnten aus unterschiedlichen Gründen in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften entweder in die Kritik geriet oder unzeitgemäß erschien. Schließlich erweist sich Fichte als Theoretiker einer Pädagogik der Anerkennung und Freiheit.
Aufklärung ist – so hatte es Immanuel Kant im Jahre 1783, sechs Jahre vor der französischen Revolution definiert – der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Mündigkeit sei indessen die Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung anderer zu bedienen. Die im Jahre 1803 postum herausgegebene Vorlesung über Pädagogik hält zudem – scheinbar widersprüchlich fest – dass der Mensch nur durch Erziehung Mensch werden kann.
„Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind.“30
Beide Aussagen zusammengenommen scheinen zunächst widersprüchlich, werden aber miteinander vereinbar, wenn man festsetzt, dass überhaupt nur Menschen mündig oder unmündig sein können, dass aber nicht jedes Exemplar der Gattung Mensch im vollen Sinn bereits Mensch ist. Das Problem der Hörigkeit oder Aufklärung stellt sich als solches überhaupt erst dann, wenn der Mensch zum Menschen erzogen worden ist – womit eine Nachordnung der Aufklärung hinter die Erziehung festgelegt wäre. Ohne Erziehung keine Menschwerdung, ohne Menschwerdung nicht die Fähigkeit und Möglichkeit zum Erringen oder Verfehlen der höchsten menschlichen Fähigkeit, nämlich sich und andere als höchste Zwecke aus Vernunft und Freiheit heraus zu bestimmen. Diese bei Kant nur in der Fluchtlinie seines Denkens liegenden Konsequenzen sind von seinem Verehrer und Schüler Johann Gottlieb Fichte