Bildung und Glück. Micha Brumlik
Erziehung heißen kann denn was „Freiheit“ bedeutet. In der populärwissenschaftlich gehaltenen „Anweisung zum seligen Leben“, die Fichte auch als „Religionslehre“ bezeichnet hat – eine Vorlesung, in der Fichte den Versuch unternimmt, das Verhältnis von individuellem Bewusstsein und dem allgemeinen göttlichen Grund dieses Bewusstseins zu demonstrieren, findet sich folgender Satz:
„So lange das Ich noch durch seine ursprüngliche Selbsttätigkeit an seiner Selbsterschaffung zur vollendeten Form der Realität zu arbeiten hat, bleibet in ihm freilich der Trieb zur Selbsttätigkeit und der unbefriedigte Trieb als der heilsam forttreibende Stachel und das innige Selbstbewußtsein der Freiheit, welches bei dieser Lage der Sachen absolut wahr ist und ohne Täuschung; wie er sich aber vollendet, fällt dieses Bewußtsein, das nun allerdings trügen würde, hinweg. Und ihm fließt von nun an die Realität ruhig ab in der einzig übrig gebliebenen und unaustilgbaren Form der Unendlichkeit.“31
Ohne hier näher auf den systematischen Zusammenhang, in dem dieser Satz steht, einzugehen, enthält er doch gleichsam in nuce die zentralen Begriffe von Fichtes Denken: Ich, ursprüngliche Selbsttätigkeit, Selbsterschaffung, Trieb, Realität, Selbstbewusstsein, Freiheit, Unendlichkeit. Freilich scheint Fichte in dieser Passage auch anzudeuten, dass eine Bornierung auf diese Größen unzureichend ist; dass ein Bewusstsein also, das sich selbst absolutes Ich, das ursprünglich selbsttätig ist und sich als solches selbst erschafft und gleichsam von Natur aus dazu getrieben wird, sich als frei, absolut und eben selbst erschaffen anzusehen, in der Täuschung lebt. So sehr also Fichte der Philosoph der Selbsterschaffung des Bewusstseins, der absoluten Freiheit und Autonomie des Bewusstseins ist, so wenig war er mindestens in seinem späteren Denken der Auffassung, dass das Bewusstsein diesen Glaube an sich selbst und diese Fähigkeit, sich selbst zu erschaffen, sich selbst verdankt. Erst die Einsicht, dass es in und durch diese Tätigkeiten hindurch an einem allgemeinen göttlichen Grund teilhat, wird ihm Beruhigung – ein seliges Leben in der Wahrheit – bescheren. Derlei Begriffe wirken heute – im Zeitalter der Sozialwissenschaften – eigentümlich unzeitgemäß. Wir haben gelernt, dass Bewusstsein und Bewusstseinszustände das Ergebnis von Lern-, Sozialisations- und Bildungsprozessen sind, dass Denken letzten Endes nichts anderes als ein verinnerlichtes, interaktives und kommunikatives Handeln ist, internalisierte Sprache, und dass „Freiheit“ sehr viel mit Spielräumen des Handelns, materiellen Lebensbedingungen und daher auch mit bürgerlicher Ideologie zu tun hat. Indessen: Das, was bei Fichte exotisch und emphatisch klingt, wird in veränderter Sprache, unter anderen theoretischen Vorzeichen und mit anderen praktischen Ambitionen auch heute in den systemtheoretisch inspirierten Sozialwissenschaften vor allem bei Niklas Luhmann unter dem Begriff der „Autopoiese des Bewußtseins“32 ebenfalls verhandelt.
Bildung – das hat bereits Fichte gesehen – ist daher der Prozess der leiblich verankerten Bewusstseine – zu fragen ist am Ende allenfalls nach den Glückspotentialen dieses Prozesses. Während Immanuel Kant darauf beharrte, dass man durch ein konsequent moralisch gelebtes Leben allenfalls „glückwürdig“ sein könnte, jedoch nicht „glückselig“ werden könne33, lesen wir bei Fichte zwar nichts vom Glück, wohl aber vom seligen Leben und zwar in der ersten Vorlesung zum Thema „Die Anweisung zum seligen Leben“:
„Das Leben ist selber die Seligkeit, sagte ich. Anders kann es nicht seyn: denn das Leben ist Liebe, und die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe und entsteht aus der Liebe. – Ich habe durch das soeben Gesagte einen der tiefsten Sätze der Erkenntniss ausgesprochen; der jedoch, meines Erachtens, jeder nur wahrhaft zusammengefassten und angestrengten Aufmerksamkeit auf der Stelle klar und einleuchtend werden kann. Die Liebe theilet das an sich todte Seyn gleichsam in ein zweimaliges Seyn, dasselbe vor sich selbst hinstellend, – und macht es dadurch zu einem Ich oder Selbst, das sich anschaut, und von sich weiss; in welcher Ichheit die Wurzel alles Lebens ruhet. Wiederum vereiniget und verbindet innigst die Liebe das getheilte Ich, das ohne Liebe nur kalt und ohne alles Interesse sich anschauen würde.“34
Berlin, im Juni 2019
Vorbemerkung
Die vorgelegte Arbeit verknüpft und entfaltet Motive aus mehr als fünfundzwanzig Jahren erziehungswissenschaftlicher Reflexion. Das 1973 in meiner Arbeit Der Symbolische Interaktionismus und seine pädagogische Bedeutung erstmals postulierte, aber nie ausgeführte „biographische Interesse“1 findet hier in Überlegungen zum Verhältnis von Glück und Lebenslauf seine Entfaltung und verbindet sich mit den in den letzten Sätzen meiner (nicht publizierten) Dissertation angeführten Sätzen Kants zum Verhältnis von Gefühl und Tugend.2 Im Vorwort zur 1992 publizierten Advokatorischen Ethik, die wesentlich von einer Rezeption Kohlbergs inspiriert war, wird das Programm einer „Theorie moralischer Gefühle im menschlichen Entwicklungsprozeß“ angekündigt.3 Die 1995 erschienene Studie Gerechtigkeit zwischen den Generationen präludiert schließlich das Thema der Tugend, verblieb aber noch im Programmatischen.4 Den Leserinnen und Lesern wird auffallen, daß bei alledem zwei theoretische Konstanten die Argumentation bestimmen. Die Theorie des symbolischen Interaktionismus, wie sie G. H. Mead entworfen hat, und der genetische Strukturalismus, vor allem Lawrence Kohlbergs, enthalten, das möchte ich zeigen, auch nach mehr als dreißig Jahren erziehungswissenschaftlicher Rezeption ein noch immer unausgeschöpftes Potential – freilich nur dann, wenn man sich nicht auf eine kognitivistische Lektüre beschränkt.
Dieses Buch ist während meines Wechsels von der Universität Heidelberg, an der ich zwanzig Jahre lehrte, an die Frankfurter Universität entstanden. Den Kollegen des Erziehungswissenschaftlichen Seminars der Universität Heidelberg verdankt dies Buch wesentliche Anregungen. Während Jochen Kaltschmid auf die existenzphilosophischen Elemente einer Theorie der Erwachsenenbildung aufmerksam machte, überzeugte mich Felix von Cube bei aller sonstigen Kontroverse von der Unabdingbarkeit einer evolutionsbiologischen Betrachtung von Erziehungsphänomenen. Volker Lenhart hingegen schärfte meinen Blick für die gesellschaftliche Evolution des Erziehungssystems und für die Notwendigkeit einer Pädagogik der Menschenrechte, die er mit aller Konsequenz vorantreibt. Fritz-Ulrich Kolbes Arbeiten zur professionellen Kompetenz von Lehrern schuldet die hier vorgetragene Tugendkonzeption einiges. Meike Baader und Sabine Andresen, Mitarbeiterinnen in Heidelberg, danke ich dafür, mir Werk und Bedeutung Ellen Keys, die dieses Buch wesentlich prägen, vermittelt zu haben.
Besonderer Dank gebührt den langjährigen Mitarbeitern in unserem Heidelberger Forschungsprojekt zur moralischen Entwicklung jugendlicher Strafgefangener, Hansjörg Sutter und Stefan Weyers, sowie Thilo Reinke. Sie haben den pädagogischen Reichtum wie die Problematik des Kohlbergschen Paradigmas theoretisch ausgelotet und empirisch untersucht. Ohne ihre Mitarbeit am Forschungsprojekt hätte ich dies Buch so nicht schreiben können. Marcus Dietenberger danke ich dafür, den Tugenddiskurs aufgenommen und in eine fruchtbare schulpädagogische Fragestellung transformiert zu haben.
Ich widme dieses Buch meiner Frau Renate Nyssen-Brumlik in Theorie und Praxis.
Einleitung: Moralische Gefühle und Die Leichtigkeit des Seins
Die Gedenkstättenpädagogik ist einer jener raren Fälle, der die von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik aufgestellte Behauptung bestätigt, daß die Erziehungswissenschaft die nachträgliche Reflexion einer vorgängigen Praxis sei. Ohne daß damit nennenswerte Ansprüche verbunden gewesen wären, hat die gedenkpolitische Konjunktur der achtziger Jahre zur Einrichtung einer Fülle von Bildungs- und Begegnungsstätten sowie von Museen am Ort ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager, verbrannter Synagogen und mittelalterlicher Ghettos, aber auch von ehemaligen nationalsozialistischen Erziehungsanstalten geführt. Diese meist von den Kommunen, bisweilen von den Ländern, seltener vom Bund getragenen Institutionen entstanden als Ergebnis eines guten und aufgeklärten politischen Willens, ohne daß die Initiatoren in der Regel wußten, was sie wem gegenüber mit derartigen Einrichtungen bezweckten. Die naheliegenden, den theoretischen Überlegungen der sechziger Jahre entstammenden Programme hielten den neuen Herausforderungen nicht mehr stand. Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu trauern1, eine