Die Entdeckung der Freiheit. Группа авторов
hat sie nicht davon abgehalten, die Ursprünge der amerikanischen Republik gegen ihre Entstellungen und Pervertierungen zu verteidigen und an diese Ursprünge immer wieder aufs neue zu erinnern. So schrieb sie 1970 in ihrem Buch Macht und Gewalt: „Die Zeiten, da Amerika sich in voller Klarheit von den politischen Kategorien des europäischen Nationalstaats trennte, sind lange vorbei. Die amerikanische Regierung handelt und argumentiert nicht im Sinne der Amerikanischen Revolution und der ‚Founding Fathers‘, sondern ganz im Sinne des europäischen nationalstaatlichen Denkens, als sei dies schließlich und endlich doch das ihr angestammte Erbe.“1
Tatsächlich war es gerade die Konstruktion einer föderalen Republik – jenseits des europäischen Modells souveräner Nationalstaaten –, die Hannah Arendt an Amerika so schätzte. Bereits 1946 schrieb sie enthusiastisch an Karl Jaspers: „Die Republik ist kein leerer Wahn, und die Tatsache, daß es hier keinen Nationalstaat gibt und keine eigentlich nationale Tradition […], schafft eine freiheitliche oder wenigstens unfanatische Atmosphäre.“2 Auch später kam sie immer wieder auf diesen Punkt zurück, so als sie 1973 in einem Fernsehgespräch mit Robert Errera bemerkte: „Amerika ist kein Nationalstaat, und Europäern fällt es verdammt schwer, diese einfache Tatsache zu begreifen.“3 Die Begeisterung über die Andersartigkeit Amerikas im Vergleich zu Europa schärfte Arendts Blick für die Fundamente der amerikanischen Demokratie. In dem 1975 verfaßten Essay „200 Jahre Amerikanische Revolution“, in dem sie einerseits schonungslos mit der amerikanischen Politik unter Richard Nixon ins Gericht geht, stellt sie andererseits fest: „Die vor zweihundert Jahren gegründeten amerikanischen Institutionen der Freiheit haben länger Bestand gehabt, als irgendeine vergleichbare ruhmreiche Periode der Geschichte. Diese Glanzlichter der Menschheitsgeschichte sind mit Recht Paradigmen unserer Tradition politischen Denkens geworden; doch wir sollten nicht vergessen, daß sie, chronologisch betrachtet, immer nur Ausnahmen waren. Als Glanzlichter leben sie fort, um das Handeln und Denken der Menschen in finsteren Zeiten zu erleuchten.“4
Hoffnung und Skepsis in bezug auf die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft und Politik – das sind zwei Konstanten in Arendts durchaus ambivalenter Beziehung zu Amerika. So hat sie aus ihrer kulturkritischen Haltung gegenüber den fragwürdigen Erscheinungen der amerikanischen Konsumgesellschaft und jobholder society nie einen Hehl gemacht. Die in Europa weit verbreiteten Ängste vor einer „Amerikanisierung“ deutet sie als berechtigte Furcht vor den zerstörerischen Potentialen der Moderne. Während das Amerikabild des neunzehnten Jahrhunderts durch Demokratie bestimmt gewesen sei, würde Amerika heute mit der Moderne und deren zentralen Problemen, der politischen Organisation der Massengesellschaft und der politischen Kontrolle technischer Macht, gleichgesetzt. Da diese Probleme jedoch eine Konsequenz der eigenen, europäischen Geschichte seien, ist ihnen nach Arendt durch Abgrenzung gegenüber Amerika nicht zu entkommen.5 Arendt setzt vielmehr, trotz der pessimistisch stimmenden Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens in Amerika, auf die untergründig weiterwirkenden republikanischen Traditionen des Landes, die es Europa voraus habe. In ihrem 1963 im englischen Original erschienenen Buch On Revolution, in dem sie ihre Erkenntnisse über den besonderen Charakter der amerikanischen Revolution niederlegt, schreibt sie:
„Die revolutionären Vorstellungen von öffentlichem Glück und politischer Freiheit sind ein unabdingbarer Teil der Struktur des republikanischen Gemeinwesens geworden und geblieben, und als solche sind sie aus dem Bewußtsein amerikanischer Politik niemals ganz verschwunden. Ob aber diese politische Struktur wirklich so fest gegründet und untermauert ist, daß sie dem sinnlosen Treiben einer Konsumgesellschaft standzuhalten vermag, kann nur die Zukunft lehren. […] Was wir heute sehen, ist widersprüchlich; es gibt genug Anzeichen, die zu Hoffnung berechtigen, aber es gibt nicht weniger zu wohlbegründeter Furcht.“6
Im weiteren Sinn gehörten zu letzteren für Arendt auch der Einsatz von Gewalt und die Zerstörung elementarer rechtsstaatlicher Normen im Zuge einer imperialen Politik. Das also keinesfalls unkritische, aber von einer Begeisterung über die republikanischen Ursprünge der amerikanischen politischen Tradition geleitete Verhältnis Hannah Arendts zu Amerika erschließt sich erst, wenn man ihre Schritte der Annäherung an das neue Fremde nachvollzieht. Durch und durch europäisch, ja deutsch geprägt, war diese Annäherung – wie die Erfahrungen anderer Emigranten, die durch die nationalsozialistische Verfolgung ins amerikanische Exil getrieben wurden, zeigen – durchaus nicht selbstverständlich. „Von allen Emigranten in den USA“, so Ernst Vollrath, „ist sie die einzige, die sich dem Typus des anglo-amerikanischen Denkens, das sich vom Typus des traditionellen politischen Denkens in Deutschland fundamental unterscheidet, in positiver Weise genähert hat.“7 Diese Annäherung verläuft jedoch nicht einseitig, sondern Hannah Arendt fügt dem anglo-amerikanischen Kultur- und Politikverständnis „jene Momente hinzu, die aus dem deutschen Geistesleben stammen.“8 Daß Hannah Arendt – im Gegensatz zu anderen deutschen Emigranten – sich auf das anglo-amerikanische Denken und die darin verwurzelten politischen Traditionen einlassen konnte, hatte auch mit ihren eigenen Erfahrungen in der Politik zu tun, Erfahrungen, die sie erst im Pariser Exil während ihrer Arbeit für zionistische Organisationen machte (siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfgang Heuer in diesem Band). Die Berührung mit der Politik legte bei ihr – trotz der Prägungen durch die Weimarer Existentialphilosophie – das Fundament dafür, Prinzipien und Kategorien des Politischen nicht aus Metaphysik oder Moral herzuleiten, sondern aus den Erfahrungen, die in der Politik selber gemacht werden. Einer solchen Beziehung zum Politischen kam das pragmatische anglo-amerikanische Denken natürlich entgegen. Aber es mußten noch andere Dinge hinzutreten, um sich auf die neue Umgebung einlassen zu können – Neugier auf Land und Leute sowie die Bereitschaft, die Sprache richtig zu erlernen und auch außerhalb der Emigrantenkreise die Begegnung mit Amerikanern zu suchen. Kaum in Amerika angekommen, ergriffen Hannah Arendt und Heinrich Blücher in dieser Beziehung die Initiative. Sie verbrachte schon kurz nach ihrer Ankunft in New York fast einen Monat bei einer amerikanischen Gastfamilie, während Heinrich Blücher in New York Sprachunterricht nahm. In einem Brief an Arendt schreibt er in diesem Zusammenhang: „Mit dem Englischen geht’s gar nicht schlecht. Die Lehrerin ist unverändert herrlich, und ich mache wirkliche Fortschritte. Sprache und Land interessieren mich täglich mehr, und ich hoffe, bald ein brauchbares und nicht allzu oberflächliches Urteil zu haben.“9 Der Geist der Neugier, der Erkundung und der Entdeckung, der aus diesen Zeilen spricht, scheint beide von Anfang an in Amerika beseelt zu haben. Dadurch waren sie fähig, nach ihrer Ankunft die Bekanntschaft mit dem Neuen nicht als Transit, als lästiges Durchgangsstadium zu begreifen, um dann unverfälscht zu den alten Wurzeln zurückzukehren, sondern als Herausforderung und als Chance – als Chance einer neuen politischen und intellektuellen Begegnung und Erfahrung. Nur so war es möglich, daß sowohl Arendt als auch Blücher in Amerika Wurzeln schlagen und heimisch werden konnten. Dolf Sternberger charakterisierte Hannah Arendts Beziehung zu Amerika in diesem Zusammenhang treffend, als er schrieb: „Sie ist […] trotz allen erregenden öffentlichen Erfahrungen ihrer eigenen Zeit in New York und in den USA überhaupt im Grunde eine überzeugte ‚politische‘ Amerikanerin, ein ‚citizen‘ von ganzem Herzen geworden. (Es ist unnötig hinzuzufügen, wie sehr sie gleichwohl eine deutsche Denkerin und Schriftstellerin geblieben ist, wir wissen es so gut, wie sie selbst es wußte und bekannte.)“10
Gerade weil Hannah Arendt sich nicht wie eine Außenstehende zu ihrer neuen politischen Heimat verhielt, sondern sich mehr und mehr als Mitglied der amerikanischen politischen Gemeinschaft verstand, war sie in der Lage, sich in einer kreativen Weise mit der amerikanischen politischen Tradition zu befassen. Dabei zielte ihre Beschäftigung mit der amerikanischen Revolution nicht auf eine im üblichen historischen Verständnis wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion des Verlaufs der Revolution, sondern darauf, jene Motive und Prinzipien aufzudecken und in Erinnerung zu rufen, die die Gründungsväter der amerikanischen Republik angetrieben hatten. Tatsächlich eignete sich das amerikanische Beispiel wie kein anderes in der Geschichte der Neuzeit, Arendts Theorie der Republik und deren „Gründung im spontanen Akt des gemeinsamen Handelns“11 weiterzuentwickeln. In einer Würdigung dieser Leistung Hannah Arendts bemerkte Dolf Sternberger: „Auch hat sie […] ein Ereignis der neueren Geschichte entdeckt, untersucht und nachgezeichnet, worin die originäre Idee der Politik wiederzukehren schien: die amerikanische