Die Entdeckung der Freiheit. Группа авторов
der sich Arendt ausgesetzt sah, konnte „mit bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden“2.
Arendt setzte sich dieser unbegreiflichen Welt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen aus. Anfangs, zu Beginn ihres Studiums, spornte sie das Gefühl einer tief empfundenen Fremdheit dazu an, wodurch sie sich zur Existenzphilosophie hingezogen fühlte. Es ging ihr darum, einen zunächst noch unpolitischen eigenen Ort in der Gemeinschaft mit anderen zu finden. In ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin suchte sie unter dem Stichwort „Vita Socialis“ einen vom Individuum und von Gott unabhängigen „Erfahrungszusammenhang, in dem der Nächste gerade eine spezifische Relevanz hat“3. In der anschließenden Auseinandersetzung mit dem Leben Rahel Varnhagens ging es ihr nun politischer unter dem Eindruck des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland um die Versuche einer Jüdin zur Zeit der deutschen Romantik, ihre Stellung als Außenseiterin in der Gesellschaft zu überwinden und als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden.
Neben dem Gefühl der Fremdheit war Arendt von einer tiefen Leidenschaft des Denkens erfüllt, eines Denkens, das weniger an Erkenntnis im instrumentellen Sinn interessiert war als an einer verstehenden Sinnsuche. Ihre Biographie Rahel Varnhagens wurde deshalb auch keine Abhandlung über die Probleme der jüdischen Assimilation während der Herausbildung der modernen Nationalstaaten, sondern ein Gang durch die Erfahrungswelt einer Jüdin, die auf schmerzhafte, immer wieder scheiternde Weise den Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung suchte. Arendt intonierte „die Melodie eines beleidigten Herzens“, wie sie ihr Buch am liebsten genannt hätte, aber sie fand bis zu ihrer Flucht aus Deutschland 1933 keine menschlich und politisch zufriedenstellende Lösung des Problems. Erst im Exil, erst nach vielen Diskussionen über die Zukunft der europäischen Juden und der europäischen Staaten, schrieb sie 1938 die beiden Schlußkapitel. Rahel Varnhagen, so Arendt, fand erst dann zu sich selbst und zu einer gesellschaftlichen Anerkennung, als sie nicht mehr ihr Judesein ablegen und in einem anderen gesellschaftlichen und religiösen Gewand erscheinen wollte, sondern selbstbewußt als Jüdin und voller Bewunderung für den unabhängigen Heine.
Bis zu diesen Schlußfolgerungen aber war es noch ein langer Weg. Dennoch war die Arbeit an der Biographie Rahel Varnhagens mehr als die Beschäftigung mit einem individuellen Schicksal aus der Sicht der von Arendt empfundenen Fremdheit. Arendt hatte 1926 in Heidelberg Kurt Blumenfeld, den Präsidenten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland kennengelernt, der neben ihren philosophischen Lehrern zu ihrem politischen Mentor wurde. Er konnte sie zwar nicht zu einem rückhaltlosen Zionismus bekehren, ihr aber die Judenfrage in aller Eindringlichkeit nahebringen und sie davon überzeugen, daß die bisherigen Bemühungen der Juden in Deutschland um Assimilation vergeblich waren. Unter diesem Eindruck arbeitete Arendt bis 1933 an der Biographie Rahel Varnhagens.
Im Unterschied zu denjenigen ihrer jüdischen Freunde, die wie auch ihr erster Mann Günther Stern (pseud. Anders) sofort Deutschland verließen, waren der Reichstagsbrand und die anschließenden Verhaftungen Oppositioneller der Anlaß für sie, nicht mehr intellektuell, sondern praktisch zu reagieren. „Was dann losging, war ungeheuerlich und ist heute oft von den späteren Dingen überblendet worden. Dies war für mich ein unmittelbarer Schock, und von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt.“4 Schon als Kind hatte sie die Verhaltensregel ihrer Mutter sehr beeindruckt, sich immer als das zu wehren, als was man angegriffen wird, nämlich als Jüdin und nicht als Deutsche oder gar Weltbürgerin. Als sie von Blumenfeld gebeten wurde, zur Vorbereitung des 18. Zionistenkongresses im Sommer 1933 antisemitische Texte in Schriften deutscher Vereine und Berufsverbände zusammenzustellen, sagte sie sofort zu. Als sie aber nicht lange danach vorübergehend verhaftet wurde, beschloß auch sie, aus Deutschland zu fliehen. Sie ging nach Prag, dann nach Genf und schließlich nach Paris.
Besonders erschüttert war sie über die freiwillige Gleichschaltung einiger nichtjüdischer Freunde wie des Germanisten Benno von Wiese: „Das Problem“, sagte sie gegenüber Günter Gaus 1964, „das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. […] Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab’ ich nie vergessen.“5
Diese intellektuelle ‚déformation professionelle‘ bestärkte sie in dem Entschluß, nie wieder irgendeine ‚intellektuelle Geschichte‘ anzufassen. In Paris arbeitete Arendt zuerst bei einer französischen Organisation, die junge Emigranten nach Palästina landwirtschaftlich und handwerklich ausbildete, dann als Sekretärin der Baronnesse Germaine de Rothschild, deren Spenden an jüdische Wohltätigkeitseinrichtungen sie betreute, und schließlich von 1935 bis 1938 als Geschäftsführerin des Pariser Büros der Jugend-Aliyah. Die Organisation bemühte sich darum, jüdische Kinder aus Mittel- und Osteuropa auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Während dieser Arbeit begleitete sie 1935/36 eine Gruppe von Jugendlichen nach Palästina und nahm 1936 am jüdischen Weltkongreß in Genf teil. Nach der Schließung des Büros arbeitete sie bis September 1939 für die Jewish Agency als Sachbearbeiterin für die Rettung jüdischer Jugendlicher aus Österreich und der Tschechoslowakei.
Arendt war auf ihrem Weg ins Exil nur kurz in Genf bei sozialdemokratischen Freunden geblieben und bald der Zionisten wegen nach Paris gegangen. Doch bei aller Zustimmung zu einem Zionismus, der sich als politischer Bewegung von der politischen Passivität und Blindheit jüdischer Wohltätigkeitsverbände abhob, geriet sie bald in Widerspruch zu dem Nationalismus, der ein wesentlicher Bestandteil eben jenes Zionismus war, und auch zur Palästinapolitik der zionistischen Organisationen.
Die wichtigsten Gesprächspartner dabei bildete ab 1936 ein Kreis von Personen, dem Walter Benjamin und Berliner Kommunisten wie der Berliner Anwalt Erich Cohn-Bendit, der Arzt Fritz Fränkel, der Maler Kurt Heidenreich und ihr späterer Mann Heinrich Blücher angehörten. Insbesondere die Diskussionen mit Heinrich Blücher führten zu einer Weiterentwicklung ihrer politischen Auffassungen. Blücher und Benjamin drängten sie, die inzwischen gewonnenen Einsichten, daß die Assimilation das jüdische Problem nicht lösen konnte, in ihre Varnhagen-Biographie einzuarbeiten. „Rahel stand immer als Jüdin außerhalb der Gesellschaft, war ein Paria und entdeckte schließlich, höchst unfreiwillig und höchst unglücklich, daß man nur um den Preis der Lüge in die Gesellschaft hineinkam, um den Preis einer viel allgemeineren Lüge als die der einfachen Heuchelei; entdeckte, daß es für den Parvenu – aber eben auch nur für ihn – gilt, alles Natürliche zu opfern, alle Wahrheit zu verdecken, alle Liebe zu mißbrauchen, alle Leidenschaft nicht nur zu unterdrücken, sondern schlimmer, zum Mittel des Aufstiegs zu machen.“6 In einer Gesellschaft der Privilegien repräsentieren die Paria das Humane und Menschliche, sie entdecken dabei die Menschenwürde als „die einzig natürliche Vorstufe für das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft“7. Sie können nicht nur mehr Sinn für die Wirklichkeit haben, sondern auch mehr Wirklichkeit besitzen als der Parvenu. Voraussetzung dafür ist die Distanz zur Gesellschaft und die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Politisch gesehen heißt das, sich nicht in einer Welt der Parias abzuschließen und einer nationalistischen Weltanschauung zu verfallen, sondern als „bewußte Parias“ „zum Rebell werden, zum Vertreter eines unterdrückten Volkes, das seinen Freiheitskampf in Verbindung mit den nationalen und sozialen Freiheitskämpfen aller Unterdrückten Europas führt“8.
Die Moderne, so Arendt später in ihrem Aufsatz über die verborgene Tradition jüdischen politischen Selbstbewußtseins, hat den gesellschaftlichen Spielraum so sehr eingeschränkt, daß er nur durch den politischen Kampf um Gleichberechtigung und das heißt um eine Neuordnung der politischen Rechte wieder hergestellt werden kann. Der Nationalsozialismus und die antisemitischen und faschistischen Bewegungen in Europa machten in der Krise der europäischen Nationalstaaten klar, daß wesentliche Elemente wie Nationalismus und Pluralismus sowie Staatssouveränität und allgemeine Bürgerrechte nicht miteinander vereinbar waren. Die Zukunft der Juden in Europa konnte deshalb auch nicht in einem jüdischen Nationalismus liegen, weil er ganz der Tradition des verhängnisvollen europäischen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet war.
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