Die Entdeckung der Freiheit. Группа авторов
Als Arendt in Berlin Anfang der dreißiger Jahre mit Blumenfeld über den Zionismus diskutierte, gab es keine vergleichbaren Gespräche mit Günther Stern, der zu den Kommunisten um Brecht Kontakt hatte. Arendt und Stern hatten bei diesen existentiellen Debatten, wie auf die Krise zu reagieren sei, in ihren zionistischen und kommunistischen Kreisen weitgehend nebeneinander hergelebt. Erst in Paris, erst mit Blücher, begann in der Zuspitzung der Krise eine für Arendt äußerst fruchtbare Diskussion, in der beide in die Kritik des zusammenbrechenden Europa auch die Kritik am jüdischen Nationalismus und am sterilen Kommunismus einbezogen.
Blücher, 1899 in Berlin geboren, war von einer ähnlichen philosophischen Leidenschaft wie Arendt erfüllt, nur hatte er nie studiert. Er stammte aus proletarischen Verhältnissen, sein Vater starb kurz vor seiner Geburt bei einem Fabrikunfall, seine Mutter war sehr labil. Nach der Volksschule erhielt er die Gelegenheit, wegen des Lehrermangels im Ersten Weltkrieg ein Junglehrerseminar zu besuchen, wurde aber 1917 noch eingezogen, erlitt eine Gasvergiftung und kehrte nach längerem Lazarettaufenthalt zum Lehrerseminar zurück. Da aber galt seine Begeisterung schon den Spartakisten, und er verließ das Seminar, weil er mit der „weltfremden Wissenschaft“ nichts anfangen konnte. Er schloß sich der KPD um Rosa Luxemburg und Paul Levi an und tendierte später zu dem gemäßigten Flügel um Thalheimer und Brandler. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich in Berlin mit journalistischen Arbeiten und besuchte nebenbei Kurse an der Hochschule für Politik und hörte Vorlesungen bei Hans Dellbrück über Militärgeschichte. Er lernte Robert Gilbert kennen, dessen Schlagertexte in Deutschland berühmt wurden, textete mit ihm für Filme wie ‚Ja, das ist das Leben der Matrosen‘ und ‚Bomben auf Montecarlo‘, verkehrte in einem Kreis um den Expressionisten Max Holz und interessierte sich für moderne Kunst. Zweimal heiratete er. Doch die erste Ehe wurde kurze Zeit später wieder geschieden, und seine zweite Frau, die Litauerin Natascha Jefroikyn, heiratete er vor allem, um ihr die deutsche Staatsangehörigkeit zu ermöglichen. 1934 floh er über Prag nach Paris und lernte dort 1936 Hannah Arendt bei einem ihrer Vorträge kennen, 1940 heirateten sie.
Seine Stärke war die Rhetorik, die wiederum von seinem Wissensdurst, seinen Fragen und seiner Lust zur Diskussion getragen war. Alles Schreiben dagegen war ihm eine Qual, Folge einer „ungeheuerlichen schriftstellerischen Unbegabung“9, und er verzichtet schließlich darauf. „Die gute Fee hat gesprochen, ‚der Junge soll Urteilskraft haben‘, und die böse Fee hat unterbrochen und den Satz beschlossen, ‚und sonst nichts‘. Dabei bleibt es wohl“, schrieb er an Arendt.10
Blücher wandte sich nicht einfach vom Kommunismus ab, sondern stritt mit den anderen Kommunisten, doch vergeblich. „Unsereiner sucht die Dialektik in den Dingen selbst und wird als Intellektueller verschrien, während die scholastischen Helden vom pappernen Schwert sich als Realpolitiker anpreisen. Es ist alles wie um und um gedreht in dieser Zeit der chronischen Pleiten“, schrieb er im November 1936 an Arendt. Auch, daß die Stalinisten ihn als „total verjudet“ bezeichneten.11
Mit Walter Benjamin stritt er 1938 über Brechts Lesebuch für Städtebewohner. Anschließend schrieb Benjamin zustimmend in sein Tagebuch: „Blücher wies sehr mit Recht darauf hin, daß bestimmte Momente des Lesebuchs für Städtebewohner nichts sind als eine Formulierung der GPU-Praxis.“ Benjamin erkannte darin eine Verfahrensweise, „in der die schlechtesten Elemente der KP mit den skrupellosesten des Nationalsozialismus kommunizieren. […] Vielleicht darf man annehmen, daß ein Kontakt mit revolutionären Arbeitern Brecht davor hätte bewahren können, die gefährlichen und folgenschweren Irrungen, die die GPU-Praxis für die Arbeiterbewegung zur Folge hatte, dichterisch zu verklären.“12
Die Beschäftigung mit der Gegenwart wurde durch diese Art der Auseinandersetzung intensiviert. Das betraf Blücher in gleichem Maße wie Arendt. Beide verspürten den Drang, den Abgrund ohne das begriffliche Geländer von Kommunismus oder Zionismus zu erforschen. Beide aber brachten das in die Diskussionen ein, was sie aus ihrem politischen Hintergrund für wert erachteten, bewahrt und weiterentwickelt zu werden. Blücher kritisierte die verhängnisvollen mechanistischen und damit unpolitischen Theorien der Arbeiterbewegung und der Revolution sowie die deterministischen Auffassungen einer dialektischmaterialistischen Erkenntnis und eines historisch-materialistischen Geschichtsablaufs. Aber er bewahrte die Erfahrungen der politisch selbständig und solidarisch Handelnden und des revolutionären, politischen Neuanfangs sowie die Analysen von Imperialismus und Nationalismus auf. Themen, die in Arendts Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in Vita activa oder Vom tätigen Handeln und in ihrem Buch Über die Revolution einen unübersehbaren Platz einnehmen. So plädierte er 1936 in einem Brief an Arendt, kaum daß sie sich kennengelernt hatten, für den Kampf des jüdischen Volkes um Gleichberechtigung und Befreiung: „Es gibt genug Gelegenheit für die Juden, eine eigene Tat zu tun. Aber man muß für den Fortschritt kämpfen und sich nicht von der Reaktion mißbrauchen lassen. Haben nicht die Juden allen Grund, sich überall dem Faschismus todesmutig entgegenzuwerfen? Warum ist denn keiner auch nur auf die Idee gekommen, das Recht auf den Einsatz einer eigenen jüdischen Kampftruppe gegen den Faschismus in Spanien zu fordern? […] Ein Volk will sich gebären? So soll es die Freiheit umarmen. Die Juden haben ihren nationalen Befreiungskampf, schon aus geographischen Gründen, von vornherein im internationalen Maß zu führen. Dazu aber muß die Masse dieses herrlichen internationalen Sprengstoffes davor bewahrt werden, daß man sie im Nachttopf einer jüdischen Schnorrerinternationale in Scheiße verwandelt. Sie sollen stolz werden und nichts geschenkt wollen. Ihre Bourgeoisie korrumpiert sie. Vor allem aber in Palästina – da wollen sie gleich ein ganzes Land geschenkt haben. Das wird aber ebensowenig geschenkt wie ein Weib; es muß gewonnen sein.“13 Ganz ähnlich argumentierte Arendt in ihrer Kolumne „That means you“ in der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau 1941/42.
Arendt entwickelte den gesellschaftlichen jüdischen Paria zum politisch agierenden, zum rebellierenden Paria fort und trennte die zionistische Idee eines eigenständigen jüdischen Volkes von jedem übergeordneten Nationalismus. So werteten beide, Arendt und Blücher, mit der Ablehnung von Nationalismus und Geschichtsdeterminismus die Rolle des politischen Handelns und der Handelnden in einer Weise auf, die jenseits der bisherigen europäischen Tradition eines liberalen, schwachen und eines sozialistischen, abstrakten Klasseninteressen unterworfenen Handelns stand. Damit entwarfen sie, noch bevor sie in den USA die republikanische Tradition der „Founding Fathers“ kennenlernten, die ihrerseits zur italienischen Renaissance und weiter zur Römischen Republik zurückreichte, Elemente einer politischen Theorie, die dieser Tradition viel näher stand, als sie es vielleicht selbst ahnten.
Die Aufwertung des politischen Handelns bedeutete auch, die liberalen, sozialistischen und auch zionistischen Konzepte zur Lösung der Minderheitenfrage politisch abzulehnen. Noch in Paris erläuterte Arendt in einem Brief an Erich Cohn-Bendit ihre Ansichten zur politischen Lösung der Minderheitenfrage in Europa, die sich nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch verschärft hatte. Das Verhängnis der europäischen Politik, und zwar sowohl der Regierungen wie auch der jüdischen Vertretungen, bestand ihrer Meinung nach erstens darin, daß die Minderheitengesetzgebung das Problem nicht lösen konnte, weil sie die Minderheiten nicht als Nationalitäten, sondern nur als Religions- und kulturelle Gemeinschaften verstand. „Kultur ohne Politik, das heißt ohne Geschichte und nationalen Zusammenhang, wird zur dümmlichen Folklore und zur völkischen Barbarei“.14 Zweitens bestand dieses Verhängnis darin, daß „eine ganz neue europäische Menschenklasse“15 entstand, die Staatenlosen. Ohne Staatsbürgerschaft aber gab es weder die Aussichten auf eine Assimilation wie im achtzehnten Jahrhundert noch einen gesicherten Status überhaupt. Der Grund dafür war die fehlende Neuordnung Europas. „Die Assimilationschance des neunzehnten Jahrhunderts – eigentlich des ausgehenden achtzehnten – lag gerade in der durch die französische Revolution hervorgerufenen Neukonstituierung der Völker und in ihrer Entwicklung zu Nationen. Dieser Prozeß ist heute aber abgeschlossen. Es kann keiner mehr hinzukommen. Ja, es findet der umgekehrte Prozeß statt: der der Ausgliederung sehr großer Menschenmassen und ihre Depravierung zu Paria.“16
Daß diese Neuordnung nicht stattgefunden hat, liegt an der fehlenden Einsicht in die vorrangige Bedeutung, die die politische Freiheit und Gerechtigkeit und die daraus folgende notwendige Rechtssicherheit für die Politik