Die Entdeckung der Freiheit. Группа авторов
Gleichheit von der gesellschaftlichen und individuellen Verschiedenheit und Ungleichheit geschieden ist und das Recht durchgesetzt wird (das Recht, Rechte zu haben, ist dabei, wie Arendt in ihrem Kapitel über die Menschenrechte in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ausführt, die Voraussetzung jeglicher Existenzsicherung) und weil schließlich die Machtteilung die Republik in ihrem Bestand sichert. „Die Teilung der Gewalten“, notierte sie in ihr Denktagebuch, „als Teilung der Souveränität. Entscheidend hierfür ist nicht die Montesquieusche Formel von Exekutive, Legislative und Judiciary, sondern die unbekümmerte Aufteilung von Befugnissen zwischen Federal Government und Staaten.“25
Diese Realität mit dem Hintergrund einer verborgenen Tradition wurde für Arendt zum Katalysator für die Entwicklung ihrer eigenen politischen Theorie. Nach Abschluß ihres Buches über die totale Herrschaft wandte sie sich Montesquieu zu, mit dem sie zugleich die USA „las“ und ihre eigene politische Theorie weiterentwickelte. Über Monate hinweg trug sie „diese komischen Montesquieu-Reflexionen“26 in ihr Denktagebuch und erwog, sie zur Grundlage eines längeren Textes zu machen, der aber nicht zustande kam. Die gleichzeitige Arbeit an den totalitären Elementen im Marxismus, an dem Phänomen der Pluralität in der Politik im Unterschied zur Philosophie und an den Fragen nach dem Neuen in der Politik und der Gründung der Freiheit ließ sie statt dessen an ein Buch in Form von drei Essays denken, in dem alles vereint wäre: „Staatsformen – Vita activa – Philosophie und Politik. Im 1. Polis, römische Republik etc. inklusive Montesquieu und Ableitung des Herrschaftsbegriffs. Auch Ideologie und Terror. – 2. Arbeiten, Animal laborans, Herstellen, Homo faber, Handeln. Moderne Gesellschaft als Arbeits- (und nicht Produktions-) Gesellschaft. 3. Philosophie und Politik. Inklusive ‚common sense‘ (Hobbes) und Geschichte als ‚Ersatz‘ der Polis.“27 Daraus wurde dann aber das Buch über die menschlichen Tätigkeiten Vita activa oder Vom tätigen Leben und der kritische Vergleich der revolutionären Gründungen in Frankreich und Amerika in Über die Revolution. Auch das Spätwerk Vom Leben des Geistes findet hier seinen Ursprung. Übrig blieben Fragmente, die erst posthum unter dem Titel Was ist Politik? veröffentlicht wurden.
Mit der Lektüre von Montesquieu entwickelte Arendt eine politische Theorie dessen, was sie in ihrer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustin schon als vita socialis, als Erfahrungszusammenhang mit dem Nächsten beschrieben hatte. Jetzt ließ sie diesen Gedanken als politischen Kern der republikanischen Freiheit, als gemeinsame, zwischenmenschliche, quasi föderale und auf institutioneller Ebene föderative Freiheit wiederkehren. In der Art und Weise der Machtbildung und der Gesetzgebung kommt der ganze Unterschied zu den souveränen Nationalstaaten zutage: „Die zentrale Frage einer künftigen Politik wird immer wieder das Problem der Gesetzgebung sein,“ notierte sie. „Die Antwort des Nationalstaats war, daß Gesetze gibt, wer Souverän ist. […] Impliziert ist, daß Gesetze vom Willen abhängen und daß bestimmte Körperschaften oder Menschen mit der Macht zu wollen, für Andere zu wollen, ausgestattet sein müssen. […] Daß ich Macht haben muß, um wollen zu können, macht das Machtproblem zum zentralen politischen Faktum aller Politik, die auf Souveränität gründet – also aller mit Ausnahme der amerikanischen“.28 Anders das gewaltenteilige, föderative System, bei dem Macht „wieder ursprünglicherweise dadurch“ entsteht, „daß ‚in concert’ von mehreren [Gewalten, W.H.] gehandelt wird. Dadurch ist das eigentlich Destruktive der Macht, ihre Subjektivität, ausgeschaltet.“29
Dieses föderative Prinzip übertrug Arendt auf das Handeln als einem gemeinsamen Handeln, in dessen Dazwischen als einem Zusammenwirken Macht erst erzeugt und Welt im Sinne einer gemeinsamen Erfahrungswelt erst geschaffen wird. Die zweite ‚große Entdeckung‘, die sie von Montesquieu übernahm, war die Unterscheidung von Wesen und Prinzip einer Regierungsform, durch die sie erst zu einer historisch handelnden Körperschaft wird. Diese Entdeckung im Werk Montesquieus ermutigte sie zu dem Essay Ideologie und Terror: eine neue Staatsform, den sie der zweiten Auflage ihres Buches über die totale Herrschaft quasi als Krönung der ganzen Untersuchung anfügte.
Bei Machiavelli hatte Arendt den Schlüssel dafür gefunden, die philosophischen Grundlagen der Republik auf das Handeln selbst und die Freiheit auf die Verbindung von Pluralität und politischen Institutionen zurückzuführen. In ihrem Essay über die neue Staatsform verband sie Ideologie und Terror als Wesen und Prinzip der totalen Herrschaft mit der Erfahrung der Verlassenheit, und in Vita activa oder Vom Tätigen Leben und in Über die Revolution entwarf sie die Welt und die Institutionen des Handelns, von der aus sie solche Tätigkeiten und Institutionen kritisieren konnte, die diesen Zusammenhang auflösen und die Freiheit bedrohen. Kurt Blumenfeld kündigte sie diesen Essay mit den Worten an, „daß ich mit einem Bein bei Montesquieu gelandet bin und das andere wieder fest in meinem guten alten Augustin plaziert habe.“30 Die Kontinuität ihres Denkens fand hier eine entscheidende Fortsetzung.
Je mehr Arendt in die Fragen nach den philosophischen Grundlagen der Republik „hineingeriet“, um so mehr erschienen ihr die geistigen Grundlagen der amerikanischen Republik angesichts von McCarthy-Ära, Massengesellschaft und Politik der Parteimaschinen wie eine verborgene Tradition, die es wiederzubeleben gelte. „Die Passion, ‚to make the world a better place to live in‘, hat erst einmal die Welt wirklich verbessert, aber auch zur Folge gehabt, daß im Prozeß der Weltverbesserung alle vergessen haben, was es heißt ‚to live‘. So stehen die Amerikaner heute wirklich in einer ‚besten aller möglichen Welten‘ und haben das Leben selber verloren. Das ist eine Hölle.“31
1Hannah Arendt, „Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs ‚Der Tod des Vergil‘“ (1946), in: Dies./Hermann Broch, Briefwechsel 1946 bis 1951, hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1996, S. 169.
2Ebd., S. 170.
3Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929, S. 75.
4Hannah Arendt, „Fernsehgespräch mit Günter Gaus“, in: Dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. von Ursula Ludz, München 1996, S. 48.
5Ebd., S. 56.
6Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1981, S. 194.
7Ebd., S. 199.
8Hannah Arendt, Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976, S. 55.
9Brief vom 26. Juli 1941, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, hg. von Lotte Köhler, München 1996, S. 117.
10Brief vom 14. Februar 1950, in: ebd., S. 211.
11Brief vom 25. November 1936, in: ebd., S. 62.
12Walter Benjamin, Gesammelte Schriften VI, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1985, S. 540.
13Brief vom 21. August 1936, in: Arendt/ Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 52f.
14Hannah Arendt, „Zur Minderheitenfrage. Brief an Erich Cohn-Bendit“ (Paris, Januar 1940), in: Dies., Vor Antisemitismus ist man nur