Gesammelte Werke. Sinclair Lewis
»Ach, herrje, Elmer, kandidier nicht. Ach, verzicht drauf. Natürlich sind alle ganz verrückt nach dir, aber noch nie ist einer zweimal Präsident gewesen. Sie werden gegen dich stimmen.«
»Dabei möcht' ich sie nur erwischen!«
»Wie kannst du's denn verhindern? Wirklich, Elm – Höllenhund – ich spreche nur zu deinem eigenen Besten. Die Abstimmung ist geheim. Du kannst nicht wissen –«
»Huh! Die Vorwahl ist nicht geheim! Jetzt wirst du dich an die Arbeit machen, Fissy, und allen gelben Coyoten bekannt geben, daß jedem, der einen anderen als Onkel Höllenhund vorschlägt, einiges am Leib braun und blau anlaufen wird. Verstanden? Und wenn sie mir sagen, daß sie nichts davon gewußt haben, kriegst du Heil Columbia auf den Buckel, weil du's ihnen nicht gesagt hast. Klar? Wenn's was anderes als einstimmige Wahl gibt, wirst du in diesem Jahr nicht mehr beten!«
Eddie wußte noch, wie einem Fuchs von Elmer und Jim gezeigt worden war, was sich für ihn gehörte: sie hatten ihn ganz ausgezogen und fünf Meilen weit draußen im Land gelassen.
Elmer wurde zum Präsidenten der Seniorenklasse gewählt – einstimmig.
Er wußte nicht, daß er unbeliebt war. Er glaubte, daß Leute, die kühl gegen ihn zu sein schienen, neidisch wären und Angst hätten, und das gab ihm ein Gefühl von Größe.
So kam es, daß er keinen Freund außer Jim Lefferts hatte.
Nur Jim besaß Willenskraft genug, um ihn zu gefügiger Bewunderung zwingen zu können. Elmer verschlang Ideen im ganzen; er war ein Maëlstrom von Vorurteilen; doch Jim prüfte jeden Gedanken, auf den er stieß, mit Genauigkeit. Jim war ziemlich egoistisch, aber mit dem Egoismus eines Menschen, der denkt und vor keinem Ziel zurückschreckt, zu dem sein Denken ihn führen mag. Dieser kleine Mann behandelte Elmer wie einen großen, demütigen Hund, und Elmer leckte ihm die Schuhe und folgte ihm.
Er wußte auch, daß Jim als Quarter vielmehr für die Mannschaft bedeutete, als er, der Kapitän im Seitensturm.
Elmer Gantry war ein riesiger junger Mann, sechs Fuß eins, stark, breit mit gewaltigen Händen; er hatte ein großes Gesicht, das in der Art einer dänischen Dogge hübsch war, und einen Schopf schwarzer Haare, die er ziemlich lang trug. Seine Augen waren freundlich, sein Lächeln war freundlich – oh, er war immer recht freundlich; er war nur erstaunt, wenn er merkte, daß man seine Wichtigkeit nicht begriff und ihm nicht alles gab, was er sich wünschen mochte. Er war ein stattliches Fleisch gewordenes Baritonsolo; er war ein Gladiator, der über die komischen Verrenkungen seines verwundeten Gegners lachte.
Er hatte kein Verständnis für Menschen, die kein Blut sehen konnten, die eine Vorliebe für Poesie oder Rosen hatten, die nicht so nebenbei darauf aus waren, jedes vielleicht verführerische Mädchen zu verführen. In stimmgewaltigen Auseinandersetzungen mit Jim gab er die Versicherung ab, daß »die Kerls, die die ganze Zeit studieren, sich ja doch nur so verdammt fein und wichtig tun, weil sie bei den verdammten Professoren, die nichts als Limonade in den Adern haben, Eindruck schinden wollen.«
4
Die Hauptzierde ihres Zimmers war das Schreibpult des ersten Gritzmacher, das ihre Bibliothek trug. Elmer besaß zwei Bände Conan Doyle, einen Band E. P. Roe und ein köstliches Exemplar von »Nur Ein Junge«. Jim hatte sich eine Enzyklopädie zugelegt, die jeden bekannten Gegenstand in zehn Zeilen erklärte, die »Pickwick Papers«, und aus einer unbekannten Quelle besaß er einen vollständigen Swinburne, in den er, so viel man wußte, noch nie hineingesehen hatte.
Doch sein Stolz war, daß er Ingersolls »Einige Irrtümer Mosis« und Paynes »Das Zeitalter der Vernunft« besaß. Jim Lefferts war nämlich der College-Freigeist, der einzige Mann im Terwillinger, der daran zweifelte, daß Lots Weib in eine Salzsäule verwandelt wurde, weil sie sich nach der Stadt umsah, in der sie sich mit den anderen verheirateten jungen Leuten so gut amüsiert hatte; der daran zweifelte, daß Methusalem neunhundertneunundsechzig Jahre alt geworden ist.
Von Jim flüsterte man überall in den frommen Stübchen Terwillingers. Elmer selbst hatte Angst, denn er war, nachdem er viele Minuten an profunde theologische Fragen gewendet hatte, zu dem Schluß gekommen, daß »hinter dem ganzen Religionszeug doch was sein muß, wenn alle diese gelehrten alten Hühner daran glauben, und daß man einmal anständig werden und mit den ganzen Schweinereien Schluß machen müßte.« Wahrscheinlich wäre Jim schon längst von den geistlichen Professoren aus dem College hinausgeworfen worden, wenn seine Art, Fragen zu stellen, so oft sie mit seiner Ungläubigkeit rangen, nicht so ehrfurchtsvoll gewesen wären, daß sie ihn, nervös und konfus geworden, laufen ließen.
Sogar der Rektor, der Rev. Dr. Willoughby Quarles, früher Pastor an der baptistischen Ewigkeitsfels-Kirche in Moline, Ill., der mehr als sonst jemand über die Notwendigkeit der Taufe durch völliges Untertauchen geschrieben hatte überhaupt in jeder Hinsicht ein Mehr-als-sonst-jemand-Mensch – sogar wenn Dr. Quarles sich Jim vornahm und fragte: »Machen Sie eine gute Anwendung von unserem Unterricht, junger Mann? Glauben Sie mit uns nicht nur an die Offenbarung der Bibel als solcher, sondern auch an ihre wörtliche Offenbarung, und daran, daß sie die einzige göttliche Richtschnur des Glaubens und der Werke ist?« Dann sah Jim lerneifrig drein und sagte sanft:
»O ja, Doktor. Da sind nur ein oder zwei Kleinigkeiten, die mir zu schaffen machen, Doktor. Ich habe sie dem Herrn im Gebet unterbreitet, aber er scheint mir nicht sehr zu helfen. Sie werden es sicher können, Ja, warum mußte Josua die Sonne aufhalten? Natürlich ist es geschehen – es steht ja ganz klar in der Schrift. Aber warum mußte er es tun, wenn der Herr den alten Juden immer half, und wenn Josua gewaltige Mauern zum Einsturz bringen konnte, ganz einfach, indem er seine Leute schreien und Trompeten blasen ließ? Und wenn Teufel so viel von den Krankheiten verursachen, und wenn man sie austreiben mußte, wie kommt es dann, daß gute baptistische Doktoren heute nicht mehr statt T. B. und ähnlichen Sachen Besessenheit vom Teufel konstatieren? Kann man Teufel haben?«
»Junger Mann, ich will Ihnen eine unfehlbare Regel geben: fordern Sie nie Rechenschaft über die Wege des Herrn!«
»Aber warum sprechen die Doktoren heute nicht mehr von Teufelsbesessenheit?«
»Ich habe keine Zeit für müßiges Gerede, das zu nichts führt! Wenn Sie etwas weniger an Ihre wunderbaren Verstandeskräfte dächten, wenn Sie sich vor Gott im Gebet demütigten und ihm eine Gelegenheit gäben, würden Sie die wahre geistige Bedeutung all dieser Dinge verstehen.«
»Aber wie ist es damit, wo Kain seine Frau hergekriegt –«
Ganz respektvoll sagte Jim das, aber Dr. Quarles (er hatte eine Fliege und trug weiße Hemden) drehte sich um und fuhr ihn an: »Ich habe keine Zeit mehr für Sie, junger Mann! Ich habe Ihnen gesagt, was Sie tun sollen. Guten Morgen!«
Am selben Abend hauchte Mrs. Quarles: »Oh, Willoughby, hast du dir diesen schrecklichen Senior vorgenommen – diesen Lefferts – der immer Zweifel zu verbreiten sucht? Hast du ihn hinausgeschmissen?«
»Nein«, säuselte Rektor Quarles. »Keine Spur. Es war nicht notwendig. Ich habe ihm gezeigt, wie er sich geistige Führung suchen soll, und – ist der Fuchs gekommen, das Gras mähen? Was der sich eigentlich denkt, daß er fünfzehn Cents für die Stunde verlangt!«
Jim hing an einem Haar über dem Abgrund der Hölle und wurde vom Wind geschaukelt; das schien ihm aber sehr viel Spaß zu machen, während Elmer Gantry von dieser Verruchtheit bezaubert und entsetzt war.
5
An diesem Novembertag im Jahr 1902, im November ihrer Seniorenklasse, hatte der Himmel eine schmutziggraue Farbe, die hölzernen Bürgersteige von Gritzmacherquellen waren kotbeschmiert. In der Stadt war nichts los, und in ihrem Zimmer roch es betäubend nach dem Dunst des Ofens, in dem zum erstenmal seit dem Frühling Feuer brannte.
Jim lernte Deutsch, er war in einer elegant behaglichen Stellung zurückgelehnt und hatte die Füße gegen das Schreibpult gestemmt. Elmer lag quer über dem Bett und stellte Untersuchungen darüber an, ob ihm das Blut zu Kopf