Schneesturm im Hochsommer. Meinrad Inglin

Schneesturm im Hochsommer - Meinrad Inglin


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um sie nachher wegzuwerfen. Er hatte ein längliches Gesicht mit klugen, dunklen Augen, die ausnahmsweise sowohl vor Heiterkeit wie vor Entrüstung sprühen konnten, aber sonst mit einem freundlichen Ernst ins Leben blickten und eine Art verrieten, der man nichts Unedles zutraute. Er verurteilte das unsportliche Benehmen Roberts, doch ihn selber mochte er aus anderen Gründen wieder gut leiden und nahm ihm seinen Verstoß jetzt auch nicht übel, wie denn auf dieser Insel überhaupt nichts übel oder schwer genommen und auch kein triftiger Anlass dazu geboten wurde.

      Sie gingen auf andere Plätze, fingen ein paar Gründlinge und kleine Barsche, die sie als Köder an dreifache Angeln steckten, und verteilten sich gespannt zum Hechtfang. Als sich auch dabei vorläufig nichts ereignete, «setzte» jeder die Angelrute, indem er ihre Mitte auf einen Steinblock oder eine Astgabel legte, ihren Schaft in ein Loch steckte oder mit Steinen beschwerte; geduldig stand er dann da, beobachtete den unruhigen Korkschwimmer und ergriff die Rute nur noch, um das ängstlich zum Ufer strebende Köderfischchen behutsam wieder ins tiefere Wasser hinauszuschwingen.

      Eine Stunde lang war es still auf der Insel, die Baumkronen standen regungslos im wärmeren Lichte des vorrückenden Nachmittags, ihre Schatten auf dem ruhigen Wasser verschoben sich unmerklich, und im vielfältigen Grün des Ufer­gehölzes schimmerte da und dort der helle Körper eines jugendlichen Fischers. Ein langschnabliger, wunderbar bunter Vogel, der unversehens aus den Bäumen flog und die Insel umkreiste, brachte wieder alle in Bewegung. Anselm kam hastig dem Ufer entlang zu Sebastian, der, in die laubigen Äste spähend, seinen Platz eben auch verließ, und rief gedämpft: «Ein Eisvogel, ein Königsfischer!» Sebastian hatte ihn gesehen, wie er vom Ufer wieder unter die Bäume geflogen war, sie gingen ihm nach und trafen Karl und Robert, die ihnen wie aus einem Munde zuriefen: «Habt ihr den Eisvogel gesehen?» Sie alle hatten ihn gesehen, einen kleinen rotfüßigen Vogel mit blaugebändertem Nacken, bläulich-grün schillernden Flügeln und seidig glänzender rostroter Brust, und sie zerstreuten sich suchend, um ihn noch einmal vor Augen zu bekommen, doch er war und blieb verschwunden wie im Traum ein flüchtiger schöner Gedanke.

      Sie trafen sich wieder und stellten fest, dass heute das Wetter zum Fischen nicht günstig sei. Keiner hatte etwas gefangen. Das verdross sie nicht, sie zogen die Angelruten ein, stiegen ins Wasser und schwammen voller Wohlgefühl herum, bis die Schattenspitze des waldigen Abendberges die Insel streifte, dann brachen sie auf.

      Am nächsten freien Nachmittag betraten sie die Insel aber­mals, gespannt und neugierig wie je, da hier kein Nachmittag ganz dem andern glich. Karl fing denn auch im Verlauf einer Stunde mit Gründlingen zwei viertelpfündige Barsche, worauf alle den Barschen nachstellen wollten und den bewölkten Himmel priesen, der baldigen Regen verhieß. Während sie nun zwischen ihren Fangplätzen und der Schiff­lände, wo ein Kessel mit Gründlingen und eine Wurmbüchse standen, geschäftig hin und her gingen, kam aber Anselm, Schweigen gebietend, mit erhobenen Brauen und geheimnisvoller Miene aus einem Ufergebüsch und winkte ihnen. «Die Alte kommt», flüsterte er. «Die Schlange.» Sie folgten ihm leise ans westliche Ufer und spähten stumm aus dem Unterholz.

      Eine Schlange schwamm auf die Insel zu; den dunklen Kopf über das Wasser erhoben, doch mit den Windungen des geschmeidigen Leibes kaum einmal die Oberfläche berührend, nahte sie rasch und unauffällig. Sie züngelte, als sie landete, man sah ihre gespaltene, fadendünne Zunge und ihre gelben Backenflecken, dann tauchte lang wie ein Menschenarm ihr schwarzgefleckter graubrauner Rücken auf; sie kroch, eine feuchte Spur hinterlassend, über eine schräge Steinplatte und verschwand am Ufer. Es war eine Ringel­natter, die Jünglinge kannten sie und empfanden keinen Abscheu, sie alle hatten schon Nattern aufgehoben, wenn auch nicht ohne einen geheimen leisen Schauder; sie waren übereingekommen, diese alte Schlange, die schon vor ihnen die Insel besucht, ja zu ihr gehört und Unberufene ferngehalten hatte, zu dulden und auch dann nicht zu stören, wenn sie sich nach ihrer Gewohnheit auf den warmen Steinen eines Fangplatzes sonnte. Am Anfang hatten sie freilich noch geschwankt, ob sie die Natter töten wollten oder nicht, dann war dank Anselms Fürsprache und gewissen rätselhaften Andeutungen Sebastians in ihrem unentschieden dämmernden Innern eine achtungsvolle Scheu erwacht, die Scheu vor dem Unheimlichen, Abgründigen, das sie als etwas Wirkliches wenigstens ahnten, obwohl sie nichts darüber aussagen konnten, und für das sie die Schlange heimlich als natur­gegebenes Zeichen anzusehen begannen. Sie forschten jetzt nicht nach, wohin sie verschwunden war, sie gingen leise an ihre Plätze zurück, fischten ruhig weiter, ruhiger als vorher, als ob nun sie geduldet würden, doch heiter wie immer, und ruderten am Ende still von dannen.

      Oft fuhren auch nur ihrer zwei oder drei zur Insel, manchmal aber kamen wieder andere Eingeweihte mit, Xaver zum Beispiel, ihr ältester Klassenkamerad, siebzehnjährig, ihnen allen ein wenig überlegen um die Erfahrungen dieses einen, entscheidungsreichen siebzehnten Jahres, und dann benützten sie neben dem alten Fischerkahn noch ein kleines Ruderboot.

      Als endlich mit heißem Glanz und grell durchblitzten schwülen Nächten ihr Feriensommer anbrach, betraten sie die Uferklippe schon eines frühen Morgens hochbeglückt wie Entdecker ein märchenhaftes Eiland. Anselm schwang als Erster auf der Felsbank des Hechtekaps den kleinen Barsch an der Dreiangel hinaus, und kaum hatte der Korkschwimmer die vom Frühwind gekräuselte Wasserfläche berührt, als er zum freudigen Schreck des Fischers jäh in die Tiefe fuhr. Karl und Robert rannten auf Anselms Ruf herbei und erkannten beim ersten Blick auf die Schnur erregt, dass ein Fisch gebissen hatte. «Warten, warten!», rief Karl. «Nur nicht zu früh ziehen! Gib Schnur!» Anselm tat dies gespannt und schweigend schon selber, er bedurfte keiner Ratschläge. Sie alle hatten als Anfänger erfahren, dass man höchstens die leere Angel aus dem Wasser riss, wenn man zu früh anzog, und sie wussten jetzt, dass der Hecht mit dem lebenden ­Köder in eine gewisse Tiefe fuhr, nachdem er ihn gepackt hatte, um ihn erst dort unten zu verschlingen. Sie waren nur nicht einig, wie lang man warten müsse, der eine zählte klopfenden Herzens auf zehn, der andere auf fünfzehn oder gar auf zwanzig. «Jetzt!», rief Karl. «Zieh!» Anselm hörte nicht auf ihn, er rollte zuerst noch ein Stück lose Schnur auf, dann aber, während Robert schon draußen auf dem Felsbuckel kauerte, um die Beute in Empfang zu nehmen, dann riss er mit einem Ruck an, und die Rutenspitze bog sich so, dass die drei Fischer in Rufe des Erstaunens ausbrachen und die Größe des Gefangenen bewunderten, eh sie ihn sahen. Anselm zog mit gestraffter Schnur und gebogener Rute den Fisch behutsam und stetig heran, und alle erwarteten atemlos sein Auftauchen; er tauchte auf, verblüfft, wie es schien, ohne Widerstand, ein großer Fisch, ein Hecht. Erst als Robert nach ihm griff, schlug er mit dem Schwanze kräftig aus. Robert fuhr ihm mit der Rechten wie mit einem Raubvogelfang ins Genick und drückte ihm Daumen und Zeigefinger in die Kiemenspalten; er packte ihn so, dass er beim wildesten Zappeln nicht mehr entschlüpfen konnte, und es war zu erwarten, dass dieser entschlossene Junge dereinst auch im Leben nicht anders zupacken würde. Er hob ihn hoch empor und trug ihn lachend ans Ufer. Karl öffnete dem Räuber das scharf be­zahnte weite Maul, und Anselm löste ihm die Angel aus dem Schlund, dann stellten sie Gewichtsschätzungen an, die zwischen zwei und drei Pfund schwankten, trugen ihn zum Fischkasten ins Boot und brachen sogleich zu neuen Taten auf.

      Sebastian und Xaver beugten sich über den Fischkasten und betrachteten den Hecht. «Er hat ein Gesicht wie ein böser alter Wucherer», sagte Sebastian. «Ich habe einen abgebildet gesehen mit flachem Schädel, tückischen Augen und grämlich vorgeschobener Unterlippe, der hatte diesen Ausdruck.»

      «Jawohl, das gibt’s auch im Leben», stimmte Xaver zu. «Leute, die so aussehen, sollte man angeln dürfen; die würden auf jeden Dreck anbeißen.»

      Sie schlenderten lachend weg.

      Ein blauer Sommermorgen strahlte über dem See, auf der Insel war es still, an ihren laubgrünen, bemoosten und steingrauen Ufersäumen stand da und dort ein ruhig fischender Jüngling, oder einer trat aus dem Schatten der Bäume ins Licht und leuchtete auf, ein anderer wandelte im Innern her­um, und es schimmerte von ihm aus Gebüschlücken wie aus der Tiefe des Waldes von Spänen frischgeschälter Stämme. Sie fischten geduldig, wechselten manchmal ihre Plätze und blieben heiter und glücklich, obwohl sie nichts mehr fingen. Um Mittag schwammen sie in den See hinaus, alle in dersel­ben Richtung und leise, um keine Fische zu stören, dann machten sie bei der Schifflände ein Feuerchen, brieten Käse, bähten Brot und kochten Tee, nachmittags fischten sie wieder oder taten nichts, und abends, später als sonst, ruderten sie still


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