Internationales Strafrecht. Robert Esser
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Die als Bf. auftretende parteifähige natürliche Person, nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe muss geltend machen, selbst durch das Handeln oder Unterlassen eines Konventionsstaates in einem durch die EMRK oder ihren Zusatzprotokollen anerkannten Recht verletzt zu sein (Art. 34 Satz 1 EMRK), also direktes Opfer einer Konventionsverletzung zu sein. Auf den Eintritt eines konkreten materiellen oder immateriellen Schadens kommt es dabei ebenso wenig an wie auf eine spezielle Adressatenstellung des Bf. Entscheidend ist allein seine Betroffenheit durch die Maßnahme.
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Auch eine als Bf. auftretende Vereinigung muss die Verletzung eigener Rechte behaupten. Die Geltendmachung der Verletzung von Rechten ihrer Mitglieder genügt daher grundsätzlich nicht. Die einzelnen Mitglieder müssen in diesem Fall selbst Beschwerde vor dem Gerichtshof einlegen.[71] Eine Ausnahme stellen Kirchen dar (siehe schon Rn. 104). Bei Maßnahmen gegen ein Wirtschaftsunternehmen können Miteigentümer bzw. Gesellschafter Opfer sein, wenn sie in ihren Vermögensverhältnissen unmittelbar beeinträchtigt sind.[72] Bei juristischen Personen sind in der Regel nur diese selbst beschwert und nicht ihre Teilhaber (Aktionäre).[73] Eine natürliche Person kann darüber hinaus behaupten, selbst Opfer eines Konventionsverstoßes zu sein, wenn sich das betreffende nationale Verfahren (nur) gegen eine Vereinigung gerichtet hat, deren Zweck und Aufgabe es war, die Interessen der unmittelbar hinter ihr stehenden Mitglieder zu vertreten.[74] Davon zu unterscheiden ist das Auftreten einer Gruppe oder Vereinigung als Vertreter eines in eigenen Rechten betroffenen Bf., das grundsätzlich möglich ist.
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Ausgeschlossen ist die Geltendmachung fremder Rechte im eigenen Namen (Prozessstandschaft; Verbandsklage) und solcher Rechte, die lediglich der Allgemeinheit oder einer nicht abgrenzbaren Personenmehrheit zugeordnet sind (actio popularis).[75] Die Konvention sieht insbesondere keine Popularklage zur Auslegung der in ihr garantierten Rechte vor und sie gibt dem Bf. auch nicht das Recht, sich über eine Vorschrift des staatlichen Rechts zu beschweren, nur weil er meint, dass sie gegen die Konvention verstoße, ohne dass er direkt von den Wirkungen der Vorschrift betroffen ist.[76]
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Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass der Bf. Opfer der behaupteten Verletzung ist; in diesem Fall ist die Beschwerde auch dann zulässig, wenn es dem Bf. (auch) darum geht, ein strukturelles Problem, von dem auch andere Personen betroffen sind, zu lösen.[77]
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Ferner lässt es der EGMR zu, dass bei geradezu extremen Umständen eine Nichtregierungsorganisation (NGO) faktisch als Betreuer bzw. Vormund eines Verstorbenen handelt und z.B. eine Individualbeschwerde wegen des Todes einer völlig hilflosen Person einlegt, der auch in einem Heim keinerlei wirkliche Hilfe zuteilwurde.[78] Auch hierbei soll es sich nicht um eine Popularklage handeln.
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Auf eine Selbstbetroffenheit der als Bf. auftretenden Person verzichtet der EGMR, wenn die Beschwerde Verstöße gegen das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) oder das Verbot der Folter und erniedrigenden/unmenschlichen Behandlung oder Strafe (Art. 3 EMRK) betrifft. In dieser Konstellation kann ein naher Angehöriger der getöteten Person im eigenen Namen die Beschwerde einlegen und die Verletzung der (fremden) Rechte des von einer staatlichen Maßnahme Betroffenen geltend machen,[79] weil diese Rechte sonst nie wirksam durchgesetzt werden könnten.
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Diese Rechtsprechung ist allerdings nicht auf andere Konventionsrechte übertragbar.[80] Verstirbt eine Person nach Abschluss des gegen sie geführten Strafverfahrens, aber vor Einlegung einer Beschwerde beim EGMR, so kann ein naher Angehöriger mangels Selbstbetroffenheit (not personally affected) nicht die mangelnde Fairness des (gegen seinen Sohn geführten) Strafverfahrens rügen (Art. 6 Abs. 1 EMRK).[81]
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Wenn aber eine solche Ausnahme vom Erfordernis der Selbstbetroffenheit eingreift, muss die im Beschwerdeformular als Bf. (applicant) genannte Person diejenige sein, die von einer staatlichen Maßnahme unmittelbar und in eigener Person betroffen ist (directly affected by the measure complained of). Die das Verfahren betreibende Person sollte als ihr Vertreter (representative) auftreten.
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Davon zu unterscheiden ist eine (unmittelbare) Mitbetroffenheit oder indirekte Betroffenheit von Personen, die nicht der eigentliche Adressat einer staatlichen Maßnahme sind, zumindest durch deren Folgen aber in ihrer eigenen Person betroffen werden (z.B. Tod, Misshandlung, Unauffindbarkeit eines nahen Angehörigen).[82] Diese Personen machen letztlich eine eigene Beschwer geltend und können sich daher im eigenen Namen an den Gerichtshof wenden, wenn die Folgen der Maßnahme eine gewisse Schwere aufweisen und die von ihr betroffenen Personen ein anerkennenswertes Interesse an der Überprüfung der Maßnahme durch den EGMR plausibel darlegen (siehe auch zum Wegfall der Opfereigenschaft, Rn. 132).
2. Unmittelbare Betroffenheit
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Das Erfordernis einer unmittelbaren Betroffenheit in einem von der Konvention geschützten Recht soll die Ausschöpfung des nationalen Rechtsschutzes sicherstellen. Regelmäßig kann sich der Bf. nur gegen einen auf seine Person konkretisierten staatlichen Vollzugsakt einer gesetzlichen Regelung wenden, dessen Vollziehung seinerseits aber für eine unmittelbare Beschwer nicht erforderlich ist.[83]
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Nur ausnahmsweise kann der Bf. direkt gegen ein Gesetz vorgehen, nämlich wenn es ein unmittelbar wirksames Verbot oder Gebot enthält (self-executing) und den staatlichen Stellen bei der Ausführung keinerlei Ermessensspielraum belässt, so dass der Bf. faktisch bereits durch die reine Rechtslage beschwert ist. In diesem Fall muss der Bf. aber hinreichend und überzeugend darlegen, dass er von der gesetzlichen Regelung individuell betroffen ist bzw. werden wird.[84] Die Darlegung der unmittelbaren Betroffenheit erscheint insbesondere möglich bei den Bf. betreffenden Statusregelungen[85] oder bei Regelungen, die in sein Recht auf private Lebensgestaltung bereits unmittelbar eingreifen, so dass ihm nicht zugemutet werden kann, vor einer Beschwerde gegen die Regelung zu verstoßen und erst ein innerstaatliches Verfahren, etwa ein Strafverfahren, hinzunehmen.
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Erfordert der Schutz eines Konventionsrechts, dass der Staat entsprechende Gesetze erlässt, kann derjenige, der dadurch in seinen Rechten konkret beeinträchtigt ist, sich auch gegen eine in der Untätigkeit liegende Verletzung der staatlichen Schutzpflicht mit der Beschwerde wenden.[86]
3. Gegenwärtige Betroffenheit (Wegfall der Opfereigenschaft)
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Der Bf. muss behaupten, durch den Beschwerdegegenstand gegenwärtig – d.h. schon und noch – während des gesamten Verfahrens in einem eigenen, ihm durch die Konvention oder eines ihrer Zusatzprotokolle garantierten Recht verletzt zu sein. Dass ein Gesetz nur vorläufige Auswirkungen hat, ist unerheblich.[87] Ist die zunächst vorhandene Opfereigenschaft nachträglich entfallen, so verwirft der Gerichtshof die Beschwerde als offensichtlich unbegründet.[88]
a) Potentielle