Internationales Strafrecht. Robert Esser
(zukünftige) potentielle Opfer besteht ein Beschwerderecht nur ausnahmsweise. Begründet erst ein zukünftiges staatliches Handeln oder Unterlassen den Eintritt des Konventionsverstoßes, so ist bereits von der gegenwärtigen Opfereigenschaft und Betroffenheit einer Person auszugehen, wenn dieser das Abwarten der konkreten Rechtsverletzung als Folge des Vollzugs der staatlichen (angeordneten) Maßnahme nicht zugemutet werden kann, z.B. in Fällen der Ausweisung bzw. Auslieferung. In den besonderen Fällen einer Ausweisung von Ausländern hat der Gerichtshof allerdings durchweg entschieden, dass ein Bf. nicht geltend machen kann, er sei „Opfer“ einer Ausweisungsentscheidung, wenn sie nicht vollziehbar ist.[89] Genauso ist eine Beschwerde mangels gegenwärtiger Beschwer unzulässig, wenn eine Ausweisungsanordnung unbefristet ausgesetzt wurde oder auf andere Weise ihre rechtliche Wirkung verloren hat, auch in den Fällen, in denen der Vollzug einer behördlichen Abschiebungsentscheidung vor den zuständigen Gerichten angefochten werden konnte.[90]
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(Potentielles) Opfer einer Konventionsverletzung ist eine Person auch dann, wenn sie die konkret gegen sie gerichtete staatliche Maßnahme nicht nachweisen kann (z.B. verdeckte Ermittlungen ohne anschließende Benachrichtigung; geheimdienstliche Tätigkeit). In diesem Fall muss der Bf. die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Konventionsverstoßes in seiner Person lediglich plausibel geltend machen. Die Äußerung eines bloßen Verdachtes oder reine Mutmaßungen genügen nicht.[91]
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Der Bf. wird nicht mit seinem Vorbringen gehört, das angegriffene staatliche Handeln führe (auch) zur Verletzung der Konventionsrechte Dritter; vielmehr stuft der EGMR eine auf der behaupteten Verletzung der Rechte anderer beruhende Beschwerde als unzulässig ein.[92] Besonders deutlich wurde dies im Fall Gillberg, in dem der Bf. für die Nichtbefolgung nationaler Gerichtsentscheidungen sanktioniert wurde und vor dem EGMR vergebens vortrug, die Befolgung dieser Gerichtsentscheidungen hätte zur Verletzung anderer Personen (Probanden psychologischer Studien) in ihren Rechten aus Art. 8 EMRK (auf Nichtpreisgabe medizinischer Daten u.ä.) geführt.[93]
b) Wegfall der Opfereigenschaft
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Die Konventionsverletzung muss den Bf. in irgendeiner Form auch noch nach Einlegung der Beschwerde beschweren. Ein (bleibender) Schaden braucht ihm zwar nicht erwachsen zu sein.[94] Durch eine Wiedergutmachung des eingetretenen Konventionsverstoßes auf nationaler Ebene kann die Beschwer (gemeint ist die von Art. 34 EMRK geforderte Opfereigenschaft) aber nachträglich wieder entfallen, so dass die Beschwerde unzulässig ist/wird.
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Jedoch beseitigt nicht jede staatliche Entscheidung bzw. Maßnahme zugunsten des Bf. automatisch dessen Verletzung in einem Konventionsrecht. Insbesondere beseitigt die Erledigung der staatlichen Maßnahme durch ihren Vollzug nicht unbedingt die sog. Opfereigenschaft des Betroffenen, auch wenn in Zukunft keine erneute gleichartige Beeinträchtigung zu erwarten ist. Die Annahme einer angemessenen staatlichen finanziellen Entschädigung als Ausgleich für einen eingetretenen materiellen oder immateriellen Schaden führt nur dann zum Wegfall der Opfereigenschaft des Betroffenen, wenn mit dieser finanziellen Zuwendung zugleich ein staatliches Eingeständnis des Konventionsverstoßes verbunden ist.[95]
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Die Beschwerde ist bzw. wird aber regelmäßig unzulässig, wenn die Beschwer durch die Wiedergutmachung innerstaatlich bereits vollständig behoben ist. Voraussetzung für einen Wegfall der Verletzteneigenschaft ist bei einer nicht mehr reparablen Konventionsverletzung neben der vollständigen Aufhebung sämtlicher mit dem Konventionsverstoß verbundenen Nachteile (appropriate redress for the breach) ein eindeutiges staatliches Eingeständnis des vom Bf. geltend gemachten Konventionsverstoßes (acknowledge in a sufficiently clear way). Letzteres kann als ausdrückliche Erklärung (admission of liability) – öffentlich bzw. individuell gegenüber dem Bf. – bzw. konkludent, der Sache nach (in substance) erfolgen.[96] Nicht ausreichend sind dagegen allgemeine staatliche Maßnahmen (general measures) zur Vermeidung vergleichbarer Konventionsverstöße in der Zukunft.[97]
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Welche innerstaatlichen Abhilfemaßnahmen im Einzelnen die individuelle Beschwer beseitigen, hängt im Übrigen nicht zuletzt von der Art des verletzten Konventionsrechts und der (spezifischen) Wirkung der staatlichen Maßnahme ab, die den Verstoß beenden oder ihn ausgleichen soll.
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Für eine Wiedergutmachung für Verletzungen von Art. 3 EMRK (Folter/unmenschliche Behandlung/Haftbedingungen) verlangt der EGMR zum einen, dass effektive und sorgfältige Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts durchgeführt werden, die auch geeignet sind, die für den Konventionsverstoß Verantwortlichen einer strafrechtlichen Verurteilung und angemessenen Bestrafung zuzuführen. Darüber hinaus ist eine finanzielle Entschädigung zu zahlen, sofern dies erforderlich ist; zumindest muss aber die effektive Möglichkeit (Zugänglichkeit und angemessene Dauer des Verfahrens) bestehen, eine solche Entschädigung für die Folgen einer im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stehenden Behandlung zu erlangen.[98]
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Bei einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK kann eine Wiedergutmachung erfordern, dass Ermittlungen sowie ein Strafverfahren durchgeführt werden; ersatzweise kann die Wiedergutmachung auch darin bestehen, dass der Betroffene die Möglichkeit hat, ein Zivilverfahren zu betreiben.[99]
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Ein (rechtskräftiger) Freispruch führt hinsichtlich der Verletzung einer prozessualen Garantie des Art. 6 EMRK[100] regelmäßig zum Wegfall der Opfereigenschaft des Angeklagten, ebenso die nachträgliche Überprüfung und Aufhebung eines konventionswidrigen Strafurteils (ggf. mit Ansetzung einer Neuverhandlung der Sache unter Einhaltung der Konvention)[101], nicht aber die Aufhebung eines Urteils und die Löschung der Verurteilung im Vorstrafenregister, wenn der Vertragsstaat den Konventionsverstoß in keiner Weise offiziell eingestanden hat.[102]
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Durch die Herabsetzung einer Strafe wegen einer überlangen Verfahrensdauer verliert der Verurteilte seinen Status als Opfer (unangemessene Verfahrensdauer, Art. 6 Abs. 1 EMRK) i.S.d. Art. 34 EMRK, wenn die nationalen Stellen (erstens) die Unangemessenheit der Verfahrensdauer anerkennen und (zweitens) diesen Konventionsverstoß durch eine ausdrückliche, messbare und vor allem angemessene Strafmilderung bzw. durch eine Verfahrenseinstellung kompensieren.[103] Auch in Bezug auf eine überlange Verfahrensdauer kann die Gewährung einer angemessenen Entschädigung zum Wegfall der Opfereigenschaft führen.[104]
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Diese Grundsätze gelten auch für die Wiedergutmachung einer unangemessen langen Dauer einer Untersuchungshaft (Art. 5 Abs. 3 EMRK). Voraussetzung für den Wegfall der Opfereigenschaft ist auch hier, dass in dem das Verfahren abschließenden Urteil dargelegt wird, in welchem Umfang diese Feststellung eine messbare Minderung der verhängten Strafe des Bf. mit sich gebracht hat.[105]
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Bei einem bereits abgeschlossenen Konventionsverstoß sollten bereits in der Beschwerdeschrift Ausführungen zum Fortbestehen der Verletzung bzw. zum Nichteintritt einer staatlichen Heilung/Wiedergutmachung des Verstoßes erfolgen.
c) Sonderfall: Tod des Beschwerdeführers
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Beim Tod des Bf. ist das