Ich glaubte immer an die Kraft in mir. Bianca Sissing
wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Freunde wussten das. Sie haben mich immer unterstützt und den anderen Kindern erzählt, dass ich in Wirklichkeit sehr freundlich sei, aber zu Anfang einfach nur sehr schüchtern. Wenn ich die Menschen erst einmal kennengelernt hatte, öffnete ich mich, und sie lernten mein wahres Ich kennen. Denn eigentlich war ich entspannt, unkompliziert, spontan und lustig.
Als ich älter wurde, nahm meine Schüchternheit allmählich ab. Sie war allerdings der Grund, warum ich anfing, als Model zu arbeiten. Aber dazu später. Was mir auch half, meine Schüchternheit zu überwinden war, dass ich für Mom stark und unterstützend sein musste, wenn es ihr nicht gut ging. Je älter ich wurde, desto mehr Verantwortung für die alltäglichen Aufgaben übernahm ich, wenn Mom es nicht schaffte, aus dem Bett zu kommen. Dann habe ich eingekauft, die Wäsche erledigt und andere Besorgungen gemacht, was eben gerade zu tun war. Manchmal, wenn ich ans Telefon ging, war eine Firma dran, der wir Geld schuldeten, wie zum Beispiel dem Elektrizitätswerk oder der Telefongesellschaft. Dann habe ich gesagt, dass Mom nicht zu Hause sei. In Wirklichkeit lag sie im Bett und schlief. In der ersten Zeit musste ich meine Schüchternheit schnell überwinden, um diese Dinge machen zu können. Wenn ich unterwegs war, um Besorgungen zu erledigen, war ich immer sehr reserviert und sachlich. Ich ging raus, erledigte, was ich zu tun hatte, aber erhielt die Mauern um mich herum aufrecht und ging wieder nach Hause.
Ein Grund dafür, warum ich eine Mauer um mich herum aufrechterhielt, war mein Aussehen. Ich war immer sehr groß. Ich entwickelte mich ganz allgemein schneller, als es meinem Alter entsprach und sah daher älter aus, als ich war. Seit meinem zehnten Lebensjahr schauten die Männer sich nach mir um und dachten, ich sei ein Teenager. Sie dachten, was auch immer Männer denken, wenn sie einen jungen Teenager anschauen! Einmal kauften meine Mom und ich in einem Supermarkt Lebensmittel ein. Da bemerkte ich zwei erwachsene Männer, die mich anschauten und miteinander redeten. Zuerst versuchte ich, sie zu ignorieren. Doch sie starrten weiter und es schien, dass sie uns folgten. Ich fing an, mich unwohl zu fühlen, und sagte es Mom. Sie hatte die Männer bisher nicht bemerkt und beobachtete nun die Situation sehr diskret, um zu sehen, wie weit die Männer gehen würden. Dann ging Mom auf die beiden zu und bat sie sehr höflich, damit aufzuhören, mich, ihre zehnjährige Tochter, anzustarren, und sagte ihnen, dass ich mich unwohl dabei fühlte. Die Männer entschuldigten sich sofort und sagten, dass sie mich sehr schön fänden und natürlich gedacht hätten, dass ich älter sei. Mom bedankte sich für das Kompliment und unsere Wege trennten sich.
Eine andere ähnliche Situation, die ich nie vergessen werde, ergab sich, als ich etwa zwölf Jahre alt war. Mom und ich warteten an einer Bushaltestelle. Wenige Meter dahinter waren ein paar Geschäfte, und ich ging hin, um mir die Schaufenster anzuschauen. Mom blieb etwa vier Meter entfernt an der Bushaltestelle stehen. Da kam ein junger, hochgewachsener Mann auf mich zu, ich schätze, er war Anfang 20, und fragte, ob ich Feuer hätte. Welch eine typische Art anzubändeln. Ich sagte »Nein«, drehte mich um und schaute wieder in das Schaufenster. Dann fragte er mich, ob ich hier in der Nähe wohne. Ich antwortete »Nein«, und starrte, in der Hoffnung, dass er mich verstanden hätte und mich in Ruhe lassen würde, weiter ins Schaufenster.
Aber der junge Mann war hartnäckig. Er fragte mich, wo ich hinwolle, was ich heute noch vorhätte, und ob ich vielleicht mit ihm einen Kaffee trinken gehen möchte. Ich drehte mich um, lächelte und ging langsam zu Mom. Natürlich kam er nach. Als wir neben Mom standen, sagte ich: »Das ist meine Mutter.« Ich dachte, jetzt würde er merken, dass ich viel zu jung war, dass er es dabei belassen und seines Weges gehen sollte. Nee, er war willensstark oder nicht so clever. Er schaute Mom an und meinte: »Ich habe Ihre Tochter gerade gefragt, ob sie einen Kaffee mit mir trinken gehen würde.« Mom lächelte und sagte: »Und was hat sie gesagt?« Der Mann antwortete: »Na ja, sie hat noch nicht geantwortet«, und schaute mich an. Mom und ich lächelten uns an und sie meinte: »Das ist wahrscheinlich, weil sie erst zwölf Jahre alt ist und nicht mit erwachsenen Männern Kaffeetrinken geht. Wir gehen in die Kirche. Sie können gern mitkommen, wenn Sie mögen.« Der junge Mann war nun ganz verlegen, entschuldigte sich und ging seines Weges.
Erfahrungen wie diese haben mich gelehrt, eine Mauer um mich zu bauen, um mich zu schützen. Ich musste mich schützen, damit nichts passierte, wenn ich allein war. Die Mauer bestand aus einem ernsten Gesichtsausdruck, knapper, sachlicher Kommunikation, einem schnellen Gang, und manchmal, wenn ich das Gefühl hatte, dass es am besten war, dann redete ich nicht. Sei stark, halte Abstand, dann wird dir hoffentlich niemand etwas tun. Das war mein Motto und mein Schutz in meiner Kinder- und Jugendzeit.
Ich glaube, meine Schüchternheit half mir auch in stressigen oder hektischen Situationen, ruhig zu bleiben. Ich überlegte immer, bevor ich etwas sagte. Ich dachte vorher darüber nach, was und wie ich es sagen und wie ich verstanden werden wollte, und wie die andere Person darauf reagieren könnte. Okay, manchmal habe ich vielleicht zu viel analysiert und zu lange überlegt. Aber das war meine Natur, eher achtsam zu sein, vorsichtig und langsam, anstatt schnell, unachtsam und leichtsinnig.
Wenn Leute einfach so drauflos plappern und sagen, was ihnen gerade durch den Kopf geht oder was ihnen einfällt, ohne nachzudenken, dann kann es missverständlich werden, es kann im falschen Tonfall oder mit den falschen Worten herauskommen und sogar verletzend sein. Bis heute bin ich niemand, der einfach drauflos redet. Ich überlege kurz und dann spreche ich. Ich habe nach wie vor nicht das Bedürfnis, alles zu kommentieren. Manchmal höre ich, dass die Leute auf subtile Weise eine Bemerkung über mich machen, sie glauben, dass ich sie vielleicht nicht gehört oder nicht verstanden habe, dabei habe ich sie gehört und verstanden. Doch ich lasse die Worte einfach vorüberziehen und entscheide mich, nicht weiter auf das Thema einzugehen. Manche denken, dass schüchterne Menschen langsam oder nicht so klug sind. Doch schüchterne Menschen sind zumeist sehr feinfühlig, nehmen Energien wahr und können andere Menschen gut einschätzen. Schüchterne Menschen nehmen die feinen Einzelheiten wahr. Das gilt auch für die Wahrnehmung der Absicht und des Charakters anderer Menschen.
Je älter ich wurde und je mehr Erfahrung ich im Umgang mit anderen Menschen gewann, desto eher ließ ich meine Mauern fallen. Heute würde ich mich immer noch nicht gerade als extrovertiert bezeichnen, doch ich bin schon einen sehr, sehr weiten Weg gegangen und habe große Fortschritte gemacht. Und ich bin stolz auf die Entwicklung, die ich gemacht habe. Das schüchterne kleine Mädchen bin ich nicht mehr. Ich bin ein starker, freundlicher, warmherziger und kontaktfreudiger Mensch.
Kampf oder Flucht nach Ottawa
»Mögest du die Stärke haben, den Weg zu erkennen, den Mut und die Geduld, den Weg zu gehen, und glücklich sein auf deinem Weg.«
Als Mom im Krankenhaus war, traf sie andere Patienten, denen das Sorgerecht für ihre Kinder sehr schnell entzogen wurde. In meinem Fall hatte Mom immer noch das volle Sorgerecht für mich, obwohl sie bereits fast ein Jahr lang immer wieder in der Psychiatrie war. Sie wusste sehr wohl, dass Dad zu jeder Zeit einen Anwalt hätte anrufen können und sich innerhalb einer Minute alles verändern könnte. Sie wusste, dass sie aufgrund ihrer Krankenhausaufenthalte, ihrer psychischen Labilität und ihrer finanziellen Situation das Sorgerecht für mich sofort verlieren könnte und die Besuchszeiten damit begrenzt würden. Und sie wusste, dass sie sich mit Dad oder mit dem Anwalt nicht darüber hätte auseinandersetzen können. Das wäre zwecklos gewesen, da hätte sie keine Chance gehabt. Sie entschied, dass das nicht passieren dürfe.
Aufgrund ihrer guten Entwicklung als Patientin wurde es meiner Mutter manchmal erlaubt, eine Nacht in ihrer Wohnung zu verbringen. Dann war ich das Wochenende bei ihr. Das waren ganz besondere Zeiten für uns, wir unternahmen dann etwas Schönes zusammen, etwas, was wir am liebsten taten. Zum Beispiel gingen wir in unserer liebstes Burger-Lokal, fuhren durch unsere Lieblingsstadtteile von Toronto oder gingen zum Markt.
An einem Samstagnachmittag holte Mom mich bei Dad ab, und wir gingen gleich um die Ecke ihrer Wohnung zu »Lick’s«, unserem liebsten Esslokal, um ein Eis zu essen. Später saßen wir in Moms kleinem, alten, grünen Datsun und sie fing an zu reden. Ich erkannte an ihrer Stimme, dass sie es ernst meinte. »Du weißt, dass es mir nicht gut geht, dass ich Arztbesuche machen, regelmäßig Medikamente einnehmen und manchmal im Krankenhaus bleiben muss. Wenn ich in Toronto bleibe, werde ich im Krankenhaus sein, und du wirst bei Dad wohnen. Dann können wir uns nur an den Wochenenden sehen. Die einzige Möglichkeit