Guten Morgen, Mitternacht. Jean Rhys
Haken. Der Roman fußt auf der Erkenntnis, zu der Sasha gelangt, als das Scheitern ihrer ersten Ehe ersichtlich wird: »diesen Ausdruck in den Augen, den man bekommt, wenn man sehr erschöpft ist, wenn alles wie ein Traum ist und man plötzlich begreift, wie sehr sich die Wirklichkeit von dem unterscheidet, was die Leute einem weismachen wollen.« Guten Morgen, Mitternacht zeigt die ungeschminkte Wahrheit. Als ich den Roman zum ersten Mal las, war auch ich davon überzeugt, dass die Wahrheit finster und zerrüttet war. Der Roman schien dreierlei gleichzusetzen: Traurigkeit, Intensität und Tiefsinn – und ich war all in.
Außerdem überzeugte mich die Darstellung der Feinmechanik des Sich-Betrinkens: Sashas Sehnsucht nach den Zeiten, als eine halbe Flasche Wein noch reichte, um sie »fröhlich« zu stimmen, ihre Neigung, auf leeren Magen zu trinken. Wir sehen Sasha kaum essen. Nur trinken. »Essen? Ich will jetzt nichts essen«, sagt sie. »Ich will noch dieses Gefühl auskosten – Feuer und Flügel.« Amen, dachte ich. Damals ließ ich oft das Abendessen aus. Es vertrug sich einfach nicht mit dem weit wichtigeren Unterfangen, mich zu betrinken. Wenn ich an jene Abende zurückdenke – an die Arbeit im Hotel und die Stunden danach – erinnere ich mich vor allem an das Gluckern des Weißweins in meinem schmerzenden leeren Magen. (Alles wirbelt durcheinander wie das Bilgenwasser im Laderaum eines Schiffes …) Ich wollte nicht essen, genauso wenig wie ich ein Buch über weidende Schafe lesen wollte. Ich wollte mehr von diesem Gefühl. Mehr Gefühl, Punkt. Feuer und Flügel.
Als ich Guten Morgen, Mitternacht zum zweiten Mal las, war ich fast dreißig und gerade trocken. Der Roman widerte mich an. Ich verabscheute alles, was Sasha verkörperte: ihre tränenselige Passivität, ihre krankhafte Hoffnungslosigkeit. Sie triefte nicht nur vor Selbstmitleid, sondern wirkte auch noch selbstgerecht – in der Überzeugung, dass ihre Verzweiflung wahrhaftiger sei als die vermeintliche Freude und Geschäftigkeit, hinter der sich andere Leute versteckten: … und man plötzlich begreift, wie sehr sich die Wirklichkeit von dem unterscheidet, was die Leute einem weismachen wollen. Beim ersten Lesen hatte ich in diesen Zeilen die Kraft eines Wahrheitsserums gespürt. Jetzt sah ich nur noch Narzissmus, als glaubte Sasha, sie wäre der einzige Mensch, der je lähmende Traurigkeit gekannt hatte.
In einem kleinen tabac in der Nähe des Panthéon, wo sie sich als allein trinkende Frau unwohl fühlt, rechtfertigt sich Sasha gegenüber der Welt: »Ich gebe mir solche Mühe, wie Sie zu sein. Ich weiß, dass ich’s nicht schaffe, aber sehen Sie doch nur, welche Mühe ich mir gebe … Jedes Wort, das ich spreche, trägt Ketten um die Knöchel; jeder Gedanke, den ich denke, ist mit schweren Gewichten belastet. Trägt nicht schon seit meiner Geburt jedes Wort, das ich sage, jeder Gedanke, den ich denke, alles, was ich tue, Fesseln, Gewichte, Ketten?« Ach, komm schon, dachte ich. Als wärst du die Einzige! Anscheinend konnte Sasha das »Sie«, die anderen, nur als einen Haufen unbelasteter Seelen wahrnehmen; als wäre sie blind dafür, dass auch die ihr Päckchen zu tragen hatten.
Meine Abneigung hatte eine zerstörerische Kraft. Aber sie stank nach Übertreibung – oder in den Worten von Hamlets Mutter: »Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel.« Ich zeigte dem Roman die kalte Schulter wie einem abgelegten Liebhaber. Zwar identifizierte ich mich noch immer mit Sasha, aber ich verabscheute die Eigenschaft, die wir teilten: Traurigkeit als unverrückbares Glaubenssystem. Inzwischen sträubte ich mich gegen die Gleichsetzung von Traurigkeit und Intensität, die ich im Roman entdeckt hatte. Die Entziehungskur hatte mich gelehrt, dass Intensität auch andere Quellen haben kann. Ich war inzwischen fest davon überzeugt, dass sich Tiefsinn nicht allein aus Verzweiflung und Dysfunktion speist, sondern dass es ebenso bedeutsam, ja wahrhaftig sein kann, einen jeden neuen Tag zu bewältigen, anderen beizustehen und zu erkennen, dass auch sie manchmal unvorstellbare Lasten mit sich herumschleppen.
Die Freundin, die mir acht Jahre zuvor meine erste Ausgabe von Guten Morgen, Mitternacht geschenkt hatte, schrieb längst nicht mehr autobiographische Kurzgeschichten, deren Erzählerinnen von herzlosen Männern besessen waren. (Seien wir ehrlich, solche Geschichten hatte ich auch geschrieben.) Sie hatte als Gewerkschaftsfunktionärin gearbeitet, dann als Journalistin, die über Lohndumping und Arbeiterproteste berichtete. In ihrer Berufswahl sah ich eine Art »Fuck you« an Jean Rhys und alles, wofür ihre Figuren standen, eine radikale Abkehr von der Sorte Frau, die durch Paris zieht und sich in ihrem Schmerz suhlt. Selbst eine von Rhys’ Biographinnen nannte sie eine der größten Selbstmitleidskünstlerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts, und ich war geneigt, ihr beizupflichten.
So stark war mein Sasha-/Selbsthass, dass ich fast froh war über die erniedrigende letzte Szene des Romans, in der Sasha einen widerlichen Mann in weißem Morgenrock in ihr Bett lässt. Damit ergibt sie sich zuletzt endgültig der männlichen Gefühlskälte, ihren eigenen Geistern, der Anonymität einer herzlosen, unerbittlichen Welt. Ich hatte den Teil meines Selbst vor Augen, der Männer in meinem Bett geduldet hatte – in verschiedenen Betten, in verschiedenen Städten, in verschiedenen Stadien trunkener Traurigkeit –, obwohl ich sie dort gar nicht haben wollte. Ich wollte nichts mit dieser jungen Frau in diesen Betten mit diesen Männern zu tun haben. Ich dachte, dass ich sie vielleicht austreiben könnte, wenn ich mir gestattete, Jean Rhys’ Protagonistin ein bisschen zu hassen. Ein unschöner Teil von mir wünschte sich Sashas Bestrafung. Wofür? Für das Verbrechen, traurig zu sein? Für das Verbrechen, dass sie sich das Recht herausnimmt, andere zu verletzen, weil sie selbst verletzt wurde? War ich zu der Frau zu Beginn des Romans geworden, die Sasha für die Zurschaustellung ihrer Traurigkeit rügt?
Am meisten ging mir Sashas hartnäckige Passivität gegenüber ihrem Gefühlsleben gegen den Strich. Als sie einen Russen kennenlernt, der ihr nahelegt, neue Freunde zu finden, um ihre Traurigkeit abzuschütteln (»Dann sind Sie nie mehr allein und viel glücklicher, Sie werden sehen«), macht sich Sasha insgeheim über ihn lustig: »Das klingt ziemlich einfach. Ich muss es probieren, wenn ich wieder nach London komme.« Auch der Roman scheint sich über ihn lustig zu machen, genau wie ich bei meiner ersten Lektüre: Als ob neue Freunde ihrer existenziellen Verzweiflung ein Ende setzen könnten! Eine völlige Fehleinschätzung von Sasha, von Freundschaft, von traurigen Frauen auf der ganzen Welt!
Aber beim zweiten Lesen meinte ich, den Russen in Schutz nehmen zu müssen. Vielleicht sollte Sasha tatsächlich neue Freunde finden. Vielleicht war ihre Ablehnung solch gewöhnlicher Lösungen reine Arroganz.
Als der Gigolo sie fragt, wovor sie Angst habe, sagt sie unverblümt: »Ich habe sehr große Angst vor der ganzen verdammten menschlichen Rasse …«, aber innerlich antwortet sie mit einer träumerischen Vision: »Du gehst friedlich eine Straße entlang«, denkt sie. »Du stolperst. Du fällst in die Dunkelheit. Das ist die Vergangenheit – oder vielleicht auch die Zukunft. Und du weißt, es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, es gibt nur diese Dunkelheit, die sich kaum merklich langsam verändert und doch immer dieselbe bleibt.« Bevor ich vom Alkohol loskam, glaubte ich an ein inneres Leben, das dieser Vision sehr ähnlich war: Gefühle passieren. Sie befördern dich mit einem Tritt in den Gully. Du fällst in die Dunkelheit. Dagegen kann man nichts tun, außer eine Existenz aus Täuschung und Lügen aufzubauen: Ich bin noch auf der Straße; nein, wirklich, das bin ich! Sonst müsste man die Wahrheit zugeben: Es gibt keine Hoffnung. Ich bin gefallen.
Aber während der Wiedereingliederung sagten die Leute: »Gefühle sind keine Tatsachen.« Sie sagten: »Ein Tag nach dem anderen.« Sie setzten auf schlichte Überlebensmechanismen. Sie waren überzeugt, dass man sich entscheiden könne – dafür, für Freunde und Familie da zu sein, bei der Arbeit zu erscheinen, sich seiner Verantwortung zu stellen, den Nachwehen seiner Leidenschaften und seinen Fehlern – und dass diese Entscheidungen sich irgendwie auf die Dunkelheit auswirken. Ich glaubte nicht mehr an die Dunkelheit als einzige Wahrheit. Ich glaubte auch an andere Wahrheiten: Man konnte zurück auf die Straße klettern und weiterlaufen.
Als ich Guten Morgen, Mitternacht zum dritten Mal las, war ich fünfunddreißig und quetschte die Lektüre in ergaunerte Zeitfenster: auf meinem morgendlichen Weg zur Arbeit in einer überfüllten Subway, wo ich mit einer Hand die Seiten umblätterte und mich mit der anderen an die kalte Haltestange der Linie 3 nach Harlem klammerte; oder schnell noch ein Kapitel fertig lesend, bevor ich meine kleine Tochter vom Babysitter abholte, damit wir den ganzen Nachmittag geröstete Süßkartoffeln essen und Bilderbücher über sprechende Bären anschauen konnten. Kurz: Beim dritten