Guten Morgen, Mitternacht. Jean Rhys
paar wenigen Szenen zu bestehen, die sich immer und immer wieder zutrugen«, schreibt die Biographin – übrigens eine recht treffende Beschreibung des Plots von Guten Morgen, Mitternacht. Ich hatte noch eine (etwas kürzere) Biographie gelesen, deren Verfasserin das regelrecht krampfhafte Bedürfnis zu haben schien, Rhys in Schutz zu nehmen: »Selbstmitleid sehe ich nicht bei ihr, weder in ihrem Werk noch in ihrem Leben.« (Wirklich?) Ich war im Rhys-Archiv der University of Tulsa gewesen, wo ich mir eine zerkratzte Aufnahme anhörte, auf der Rhys mit ihrer schwermütigen, kehligen Stimme die kreolischen Lieder ihrer Jugend singt, und die Notizen sichtete, die eine ihrer Pflegerinnen in den letzten Jahren von Rhys’ sehr langem Leben pflichtbewusst gemacht hatte: wie man sie vom übermäßigen Trinken abhalten könne, ohne sie zu verärgern (mehr Eiswürfel), und wie man sie am besten von Schwermut und Trübsal ablenkte, wenn sie wieder einmal darin versank.
Und es gab den Kontext meines eigenen gereifteren Lebens – nicht nur die Jahre des Trinkens und Trockenwerdens, von den nüchternen Tagen voll Verbitterung und Selbstgerechtigkeit bis zu den Phasen von Demut und Dankbarkeit, nicht nur meine passive Einstellung zu Gefühlen oder meine aktive, sondern die Einsicht, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Man konnte dem Rat des Russen folgen, aber es half nicht unbedingt. Man konnte von der Straße in die Dunkelheit fallen, und man konnte wieder hochklettern, aber möglicherweise fiel man erneut hinab. Ich hatte mich selbst bemitleidet, während ich betrunken war. Und ich hatte mich selbst bemitleidet, während ich nüchtern war. Ich war egoistisch und ich war freigiebig gewesen. Die für mich einzig gültige Wahrheit war die Tatsache, dass die Dinge letztlich immer vertrackter waren als in der Vorstellung.
Jetzt, als Mutter, konnte ich es kaum ertragen, von der Karte am winzigen Handgelenk des Babys zu lesen. Nicht dass ich mir jetzt, da ich meine eigene fünf Wochen alte Tochter im Arm hielt, den Schmerz, ein fünf Wochen altes Baby zu verlieren, besser ausmalen konnte. Vielmehr wusste ich, dass ich mir diesen Schmerz unmöglich ausmalen konnte. Unmöglich, sich dem zu stellen.
Diesmal konnte ich zugeben, dass ich den Roman streckenweise ein wenig langatmig fand. Sashas Verzweiflung hatte etwas Klaustrophobisches und Repetitives, was kein moralisches Versagen war, aber anstrengend. Wie Rhys’ Leben, wie das Leben aller.
Aber unter meiner Ermattung spürte ich auch eine neue Zärtlichkeit für Sasha, vor allem für ihren inneren Kampf. An einem Punkt beginnt sie zu weinen – na ja, an etlichen Punkten –, betrachtet ihr Spiegelbild und denkt:
Außerdem ist das gar nicht mein Gesicht, diese gequälte und gefolterte Maske. Ich kann es abnehmen, wann immer ich will, und an einen Nagel hängen. Oder soll ich einen tollen Hut mit einer grünen Feder daraufsetzen, einen Schleier darüberhängen und ach so fröhlich durch die dunklen Straßen ziehen? Trotzig singen ›Du magst mich nicht, aber ich mag dich auch nicht … Don’t like jam, ham or lamb, and I don’t like roly-poly …‹
Sasha weiß, dass ihre Traurigkeit sowohl Gefühl als auch Darbietung ist, und sie findet Gefallen daran, sich vorzustellen, auf wie viele verschiedene Arten sie darauf Bezug nehmen kann: Sie putzt sie heraus, macht sich über sie lustig, trägt sie zur Schau, bittet sie, ein Lied anzustimmen. Sie ist sich der Tropen der traurigen Frau bewusst und spielt damit: (»Ja, ich bin traurig«, denkt sie, »traurig wie eine Zirkuslöwin, traurig wie ein Adler ohne Schwingen, traurig wie ein Geiger mit einer einzigen, noch dazu zerrissenen Saite …«) Bei meinen früheren Lektüren war mir diese Distanz völlig entgangen – dieser Humor und Spott, dieses Unter-Tränen-nach-Reimen-Greifen –, weil ich mich selbst so stark mit Sasha und durch Sasha mit Rhys identifiziert hatte, oder weil ich sie beide so eindeutig in ihrem Leid baden sah.
Beim dritten Mal erkannte ich, dass die Beziehung zwischen Rhys und Sasha komplizierter war: Sasha offenbarte Bruchstücke von Rhys’ eigenem Leben, erlaubte ihr aber gleichzeitig, aus sich herauszutreten, mit sich selbst zu zanken und über sich zu lachen. Ich erkannte Rhys als tief verwundete Frau mit einem komplizierten Verhältnis nicht nur zu ihren verwundeten Figuren, sondern auch zu ihrem eigenen Verwundetsein. Nachdem im Guardian ein Artikel über Jean Rhys mit dem Titel »Fated to be Sad« (»Zur Traurigkeit bestimmt«) erschienen war, schrieb Rhys einer Freundin, dass es sie ärgere, immer in die Rolle des Opfers gedrängt zu werden. Am Ende des Briefs stellt sie eine an ihre Interviewer gerichtete »Declaration of Rights« auf:
Ich bin keine leidenschaftliche Frauenrechtlerin
Oder ein Opfer (für immer und ewig)
Oder eine verdammte Närrin.
Ich liebe diesen Klammerausdruck: Sie wollte nicht für immer und ewig ein Opfer sein. Aber sie wollte sich das Recht vorbehalten, manchmal ein Opfer zu sein. Wie sie zu einem Journalisten sagte: »Jeder ist doch auf irgendeine Weise ein Opfer, oder?« Sie sah sich vielmehr als Einzige bereit, offen darüber zu sprechen: »Ich bin unmaskiert auf einem Maskenball, die Einzige ohne Maske.«
Beim dritten Lesen erkannte ich, dass der Roman eine breite Palette an Gefühlsnuancen bietet, dass Sasha komplexer und sich ihrer selbst viel mehr bewusst war, als ich gedacht hatte. Sie war nicht bloß in ihr eigenes Leiden verliebt. Beim dritten Lesen sah ich in ihrer Figur weder die naive Bejahung, dass Verzweiflung durch reine Willenskraft besiegt werden kann – das wäre ein gewaltiges Missverständnis! –, noch die Verkörperung von Gefühlspassivität, sondern eine nuancierte Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Handlungsmacht und Emotion. Sie versucht, ihrer Londoner Traurigkeit zu entfliehen, und muss erkennen, dass diese in Paris schon auf sie wartet. Sie versucht, ihren Tagen Struktur zu geben, um ihre Traurigkeit abzuschütteln, aber die Traurigkeit füllt jede dieser neuen Strukturen. Sie füllt jedes vor ihr stehende Glas. Sie hasst, wie Männer den Anblick weinender Frauen hassen, aber sie hasst es auch, eine weinende Frau zu sein. Sie macht sich über den Russen lustig, der meint, sich besser zu fühlen sei so leicht. Sie will sich auch besser fühlen. Oder vielmehr, sie kann sich an eine Zeit erinnern, da sie sich besser fühlen wollte. Einst hat sie ein Straßenkätzchen bemitleidet, das eine Wunde am Hals hatte. Dasselbe Kätzchen schmiss sie aus ihrem Zimmer. Ein Teil von ihr glaubt, dass ein Drink Abhilfe schaffen könne. Ein anderer weiß es besser.
Beim dritten Lesen ging ich nicht vor Sasha als Schutzheiliger aller traurigen Frauen in die Knie, tat sie aber auch nicht als lächerliche Heulsuse ab. Ich huldigte nicht länger ihrem Schmerz. Aber ich verabscheute ihn auch nicht. Ich respektierte ihn für die Bereitschaft, verabscheuenswert zu sein. Wenn Sasha von den Ketten um ihre Worte spricht, will sie damit vielleicht gar nicht ihren Schmerz als außergewöhnlich darstellen, sondern ausdrücken, wie viel Anstrengung es kostet, überhaupt irgendetwas zu sagen. Vielleicht gibt es auf der Welt genug Platz für weinende Frauen und für Gewerkschaftsfunktionärinnen. Vielleicht kann man Schmerz als überwältigend verstehen und zugleich als dynamisch, als überraschend.
Letztlich liebe ich das am meisten an Guten Morgen, Mitternacht: die Erkenntnis, dass Traurigkeit, so sehr sie alles andere verdecken mag, immer verbunden ist mit dem, was dahinterliegt. Schmerz bleibt nie allein. Er muss es aufnehmen mit der Welt in all ihrer Fülle, mit ihren Zwängen, ihren zerbrechlichen Sehnsüchten, ihrem absurden Humor, ihren gnadenlosen Erinnerungen, ihren Schnapsgläsern und kalten Nächten und ihrer beharrlichen, gnadenlosen Schönheit.
Aus dem amerikanischen Englisch von Nora Petroll
Guten Morgen, Mitternacht!
Ich komm jetzt nach Haus,
Der Tag ist meiner müde –
Wie könnte ich seiner müde sein?
Das Sonnenlicht war so süß,
Ich wäre gern geblieben –
Doch der Morgen wollte mich nicht – jetzt –
Drum gute Nacht, Tag!
Emily Dickinson
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