Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte. Felix Schmidt
Tage verfliegt mit jedem Kilometer. Sie weicht den Überlegungen darüber, was ich in meinem Heimatort, der Kleinen Stadt am Rhein, vorhabe.
Ich kehre in Gedanken in jene Kinder- und Jugendtage zurück, in denen sich etwas Zerstörerisches in das Familienleben eingeschlichen hatte, das seither in meinem Unterbewusstsein weiterlebt. Im Laufe der sieben Jahrzehnte, die seither vergangen sind, hat vieles in der Distanz eine andere Farbe angenommen. Die Erinnerung ist ja oft nur eine Annäherung, treibt seltsame Blüten. So mischen sich in das reale Geschehen Bilder ähnlicher Schicksale, von denen ich nur gehört habe. Doch auch das dient dazu, das Milieu von damals zu erhellen.
Nach über sieben Stunden Fahrt quer durch Deutschland steige ich in Freiburg im Breisgau aus dem Zug. Ich gehe den Bahnsteig entlang, das Fahrgeräusch dröhnt noch in meinen Ohren. Nach einem prüfenden Blick erkenne ich den Freund aus Jugendtagen sofort, trotz des Barts, der jetzt um sein Kinn gewachsen ist. Er steht, wie verabredet, am Zeitschriftenkiosk, immer noch von gleicher kräftiger Statur und so versonnen wie einst. So selbstversunken habe ich ihn auch in Erinnerung. Ich habe ihn bestimmt seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte sich angeboten, mich abzuholen und in die Kleine Stadt am Rhein zu bringen, wo ich im »Gasthof zum Engel«, der sich jetzt ein wenig großspurig Hotel nennt, ein Zimmer für vierzehn Tage gebucht habe. Der alte Freund freut sich sichtlich über das Wiedersehen.
Als wir im Auto sitzen, erzählen wir einander, wie es uns in den letzten Jahrzehnten ergangen ist. Er hatte Karriere gemacht, war Rektor des Gymnasiums in der Kreisstadt geworden, nicht nur weil er den Konkurrenten um die Stelle einen Gedankensprung voraus war, sein Engagement in einer Partei scheint ihm dabei dienlich gewesen zu sein. Nun sei er aber schon einige Jahre im Ruhestand. Er sei lange nicht damit zurechtgekommen, morgens nicht mehr in den Schuldienst zu dürfen. Mit einigem Behagen spricht er davon, dass er aber immer noch als Nachhilfelehrer in Anspruch genommen werde. »Das macht Freude und bringt ein wenig Geld in die Familienkasse.« Er hat seine Jugendfreundin geheiratet und mit ihr zwei Töchter aufgezogen.
Wir schlängeln uns auf einer serpentinenreichen Straße durch sattgrüne Matten und Weinberge, die schon im Saft stehen und am Horizont in einen dunklen Tannenwald übergehen – Augentrost für einen Menschen, der seit Monaten auf nichts anderes als das Berliner Fassadengrau geblickt hat.
Mir kommt der immer wiederkehrende Satz des Vaters in den Sinn: »Wer im Garten Eden lebt, braucht keinen Urlaub.« Damit hat er die Bitte der Familie abgewehrt, doch einmal in die Sommerfrische zu fahren, möglichst ans Meer. Er war richtig verärgert gewesen, wenn die Sprache auf das Thema Urlaub kam. Sträubte sich da etwas ihn ihm, das wir nicht kannten und nicht wissen sollten? Ein dunkler Fleck in seinem Leben? Ich habe es nie herausbekommen.
Als Handwerksbursche war der Vater jahrelang auf Wanderschaft gewesen. »Ich habe die Welt gesehen«, hat er von sich behauptet. In Wahrheit hatte er nur Deutschland und Österreich durchstreift. Die Postkarten mit Grüßen in Frauenhandschrift, die ich nach seinem Tod in einem Schuhkarton verborgen gefunden habe, sind Zeugnisse seines Draufgängertums. Da muss er erstklassig gewesen sein.
Als er dann sesshaft wurde und eine aus der Postkartensammlung geheiratet hatte, die Mutter, gingen seine Ausflüge über sein Blickfeld tatsächlich nicht mehr hinaus.
»Daheim ist es am schönsten«, war ein anderer seiner Lebenssprüche gewesen. Er meinte damit den Obstgarten mit dem alles überragenden Kirschbaum hinter dem Haus, in dem die Familie am Sonntagnachmittag Kaffee getrunken und den Marmorkuchen aus Rührteig gegessen hat.
Das alles wird an diesem hellen Apriltag wieder lebendig, als ich mit dem Freund an den Bauernhöfen mit den herabgezogenen Schindeldächern und dem Blumenschmuck vorbeifahre, der wie ein Garten über dem Fenstersims hängt. Das Abendrot, das uns die letzten Kilometer begleitet hat, ist verblichen, es dämmert, während wir das Ziel erreichen. Der »Gasthof zum Engel« sieht immer noch so aus wie früher, als die Kleine Stadt am Rhein kaum viertausend Einwohner zählte. Mittlerweile haben sich um den alten Stadtkern viele Reihenhäuser gruppiert und mittelständische Industriebetriebe angesiedelt. Die Kleine Stadt hat es so auf über zwölftausend Einwohner gebracht.
Dort, wo die Landschaft terrassenförmig in die Vorberge des Schwarzwaldes aufsteigt, funkelt nun das Weiß neuer Villen, die sich örtliche Fabrikanten und Professoren aus der nahen Universitätsstadt gebaut haben, wie mir der Freund sagt.
Er nimmt mir Koffer und Tasche ab und trägt sie in den Gasthof. Er schnauft dabei vor Anstrengung. Ich sehe ihn von der Seite an und bemerke, dass einem Menschen auch die Jahre im gemächlichen Schuldienst zusetzen können.
»Wenn du mich brauchst, ruf mich an, ich kann in fünfzehn Minuten da sein.«
Während meine Personalien aufgenommen werden und die Aufenthaltsberechtigung geprüft wird, schaue ich mich in der mit dunklem Holz getäfelten Gaststube um. Sie kommt mir gemütlicher vor als früher, das mag an den mildes Licht spendenden Wandlampen liegen. Der Raum ist fast leer.
»Die Pandemie«, sagt der Mann an der Rezeption, der meinen Blick verfolgt hat. »Wir dürfen nur Gäste aufnehmen, die nachweisen können, dass sie beruflich im Ort zu tun haben.«
»Wie ich.«
Das Zimmer Nummer zwei, das er mir zuweist, ist mit einer heiteren französischen Tapete ausstaffiert, die die Geschichte eines Schäfers und einer Schäferin erzählt, es hat ein eigens Bad, das es vor Jahren, als ich zum letzten Mal hier war, noch nicht gab. Ich packe rasch mein Waschzeug aus, wasche mir zwanzig Sekunden lang die Hände, wie man es in diesen Zeiten tun sollte. Dann mache ich mich auf den Weg zum Elternhaus. Es sind nur zehn Minuten zu Fuß. Ich habe es nicht eilig und gebe den Gedanken und Bildern nach, die sich mir aufdrängen. Es ist eine mir immer noch vertraute Gegend mit Menschen, die genau so aussehen wie vor vielen Jahren, als ich im Gymnasium die Schulbank drückte und an dem ich jetzt vorbeilaufe, nicht ohne Respekt, wie damals. Es sind jetzt nur noch drei Minuten zum Elternhaus. Das weiß ich von früher.
Der Großvater, den ich nur von einem Bild kenne, das auf dem Vertiko im Wohnzimmer stand und einen gedrungenen Mann zeigte, dessen rundem Gesicht man den Lebensgenuss ansah, hat das dreistöckige Gebäude um die Jahrhundertwende auf einem großen Grundstück in einfachem Stil erbaut, um nicht zu sagen in keinem Stil. Der Vater hat den grauen Kasten gründlich renoviert, mit Wetterfarbe geweißelt und die Küferwerkstatt, die den Obstgarten vom Haupthaus trennte, um einige Zubauten erweitert. Das Geschäft mit den Weinfässern scheint in jenen Tagen gut gelaufen zu sein, die Nachfrage muss größer gewesen sein als das Angebot. Deshalb konnte er auch einige Gesellen einstellen, eine neue Bandsäge und ein zeitgemäßes Hobelwerk kaufen, wofür er bei der Vereinsbank-Filiale, die ein Verwandter leitete, einen Kredit aufgenommen hat, den er bereits nach fünf Jahren getilgt hatte. Der Vater muss ein scharfer Rechner gewesen sein.
Auf diese Leistung, überhaupt auf sein Handwerkertum, auf seinen Meisterbrief vor allem, war er noch stolz, als die Zeit ihm schon den Rücken gekrümmt hatte, die Lebensperspektive vermasselt war und er unter dem hochragenden Kirschbaum dahindämmerte: Um ihn herum hatte er einst den stattlichen Gemüsegarten angelegt, der alles hergab, was in der Küche gebraucht wurde. Für den täglichen Bedarf wurde ja nur das Allernötigste gekauft.
Siebenundachtzig Jahre sind vergangen, seit ich in diese Welt hineingeboren wurde. Ich bin um vieles älter geworden als der Vater. So lange hat es gebraucht, um über das schreiben zu können, was sein Schicksal war und in meinem Leben ein Angstgefühl hinterlassen hat.
3.
Eigentlich wollte ich gar nicht aus der Mutter in die Welt schlüpfen.
Es war fünf Uhr morgens an einem Donnerstag, als die Wehen einsetzten und die Hebamme geholt wurde. Aber weder sie noch die Großmutter schafften es, mich aus der dunklen Höhle im Bauch der Mutter zu zerren. Doktor Gutenberg, der Hausarzt, wurde alarmiert. Er hatte eine Praxis nur ein paar Häuser weiter und kam auf Zuruf. Dem Doktor gelang es, mich mit einiger Mühe und einer Zange ans Licht des schon sonnigen Apriltages zu holen.
Ich war nicht das rosige Baby, das erwartet worden war. Ich war blau – wie der Vater, der offenbar vorzeitig einen zu großen Willkommensschluck