TENTAKEL DES HIMMELS. Heike Vullriede
Was für ein Sumpf aus Lügen und Sünden. Nicht Gott lenkte die Sekte, der Teufel war es.
Doch inzwischen war es ihm fast egal. Peters Motivation, das durchzustehen, versank wie bei jedem seiner Friedhofsbesuche in der Trauer um Claudia. Rache? Wozu? Seine Frau kam dadurch nicht zurück. Ihm blieb nur die Einsamkeit. Er hatte einen Sohn. Der vegetierte als obdachloser Künstler in Berlin. Jan wusste nicht einmal, woran seine Mutter verstorben war, geschweige denn, unter welchen Umständen. Er hatte nie danach gefragt. Jan und er lebten völlig verschiedene Leben. Ihn anrufen? Es widerstrebte Peter. Nicht nur falscher Stolz hielt ihn zurück. Was sollte Jan denken, wenn er von der Verstrickung in die falsche Kirche erfahren würde? Nach dem Tod von Jans Mutter sehnte Peter sich jeden Morgen und jeden Abend nach einem Lebenszeichen seines einzigen Kindes. Er hatte den Jungen vergrault, ihm zu wenig Liebe gezeigt. Wegen ihm war Jan nach Berlin gezogen, möglichst weit weg von Streit und Verständnislosigkeit. Gern wollte er wieder gutmachen, was er in frühen Jahren verpasst hatte. Peter hatte das Testament geändert. Jan sollte das, was noch übrig war, erben. Nicht als Pflichtteil, sondern alles, was in der Vorversion des Testamentes bereits der Sekte zugedacht war. Und ihn, Jan Torberg Junior, den rebellischsten und dickköpfigsten aller möglichen Söhne, würde der Padre mit noch so großer Scheinheiligkeit niemals beschwatzen können. Peter selbst resignierte inzwischen.
Der Nebel zog seinen milchigen Schleier dichter um ihn. Vom Nebengrab aus starrte ihn die Krähe an und schrie auf, als wollte sie ihn fragen, welchen unheiligen Gedanken er gerade nachhing. Ja, er hatte daran gedacht, die Wartezeit bis zur Vereinigung mit seiner Frau erheblich zu verkürzen und zahlreiche Mittel und Wege abgewogen, die es ihm leicht machen sollten. Zu Hause und im Büro seiner Firma dachte er unentwegt daran, die Lügner aus der Sekte mit allen Mitteln zu bestrafen. Doch dann stand er jedes Mal schwach und wie betäubt vor dem Grab seiner Frau und überlegte, aufzugeben und für immer zu verschwinden – dahin, wo Claudia auf ihn wartete.
Er strich mit dem Zeigefinger über die Rose.
»Ohne dich macht alles keinen Sinn.«
Peter hörte das leise Knirschen von Sohlen auf nassem Schotter hinter sich. Gleich darauf überzog Gänsehaut seinen Nacken, als lägen nur Millimeter zwischen ihm und dem Atem eines fremden Menschen. Man merkt, wenn sich jemand von hinten nähert. Jedenfalls dann, wenn man in gänzlicher Stille verharrt. Da waren sie also, die Schergen des Padre, die Schläger Gottes. Er war sich sicher, doch die Enge seines Geistes im Bann des Grabes hinderte ihn daran, sofort um sich zu schlagen. Erstaunt nahm Peter seine Trägheit wahr, panische Angst zu empfinden. Die musste er gewiss haben, denn warum sonst sollte sich jemand an einsamer Stelle an ihn heranschleichen. An Geister glaubte er nicht, auch, wenn er manches Mal insgeheim auf die Hände seiner Frau hoffte, die ihn zu ihr in die weiche Erde ziehen wollten.
Peter nahm das Rauschen von Kleidung neben sich wahr und spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter. Nun begann sein Herz doch, kräftig zu klopfen. Aber er sah sich nicht um, weder nach hinten noch zur Seite. Er starrte ohne zu Zwinkern die Krähe an, die wieder auf Claudias Grab hüpfte. Eine Hand fasste nach seinen Fingern. Sie fühlte sich unecht an, künstlich – nicht so warm wie die Haut eines Menschen. Zwischen seinen Fingern wiederum fühlte er etwas schrecklich Kaltes. Man hob Peters Arm, das Kalte drückte gegen seine Schläfe, sein Zeigefinger krümmte sich, ohne dass er etwas dazu tat. Er ließ es geschehen.
Ich komme, dachte er.
Der Atem neben ihm ging fast lauter und schneller als sein eigener. Dann riss es ihm fast den Kopf weg.
Das Erbe
Tot! Der Alte war tatsächlich tot. Ein leichter Schauder kroch Jan beim Anblick des mächtigen Holzschreibtisches den Rücken entlang, als säße sein alter Herr noch immer dahinter und debattiere mit ihm über Jans ineffektives Künstlerdasein. Dabei musste ineffektiv ja nicht gleichzeitig unproduktiv bedeuten. Aber das hatte seinen Vater nie interessiert. Kunst hatte Hobby zu sein, es sei denn, man wäre berühmt wie van Gogh oder Picasso. Dass auch die sich erst einen Ruf hatten erkämpfen müssen, war für den Alten schon zu viel des Geschwätzes gewesen. Das geldgeile Denken seines Vaters und Jans chaotische Lebenskunst … ein bis zum Ende unbefriedetes Schlachtfeld. Darauf zurückgelassen: nur Verlierer, wie in jedem ordentlichen Krieg.
Nun hatte er seinem Leben selbst ein jähes Ende bereitet. Ein Schuss, aufgesetzt auf die Schläfe, dessen Explosionskraft den Schädel zerfetzte, und dessen Spuren von Rauch und Hirngewebe an der rechten Hand von Selbstmord zeugten. So hatte man es Jan erklärt. Es waren ihm zu viele Details. Nie im Leben hätte Jan mit einer derartigen Tat seines Vaters gerechnet. Doch die Menschen, die seinen Vater besser kannten als er, erzählten etwas anderes. Sie sprachen von tiefer Trauer nach dem Tod seiner Frau, von abwechselnd depressiven und aggressiven Stimmungen.
Eine seltsame Mischung aus Schmunzelnmüssen und Schmerz vibrierte in Jan, während er sinnlos auf das Erscheinen der vertrauten grauhaarigen Gestalt mit den herabhängenden Mundwinkeln hinter dem Schreibtisch wartete. Irgendwie vermisste er ihn doch. Es war etwas Unvollendetes im Abgang seines Vaters. Er hatte etwas übrig gelassen, nicht nur die Marketingfirma mit – bis vor wenigen Tagen – 96 Beschäftigten, nicht nur eine Menge Geld … vielleicht hatte Jan sogar gehofft, seinen Vater doch noch stolz machen zu können, womit auch immer – jedenfalls nicht mit den Fotografien aus seiner betagten Nikon, der Zeichnerei und der Grafittikunst … aber jetzt war es zu spät. Der Alte war weg, verstaut im Grab der Mutter, die womöglich nicht besonders glücklich über die unerwartete Gesellschaft nach den letzten Monaten in Ruhe war.
»Tja, und jetzt wühle ich hier herum und bringe mit Sicherheit alles durcheinander. Ob du das so gewollt hast?«, flüsterte Jan.
Er schritt langsam um den Schreibtisch herum, ließ sich mit seiner seit Wochen nicht gewaschenen Jeans in dem durchgesessenen und speckigen Lederungetüm dahinter nieder und streckte seine langen Beine unter der verkratzten Holzplatte aus. Einen Moment lang wippte er gedankenvoll hin und her. Bald näherten sich seine Fingerspitzen dem Griff der Schublade vor ihm. Privatbereich Vater! Fast spürte er einen Klatsch auf seiner Hand.
Die Tatsache, dass ihm sein Vater trotz allem all das bedingungslos vererbt hatte, wertete Jan als letzten verzweifelten Versuch, den einzigen Nachkommen von der Gosse weg in ein normales Leben zu pressen. Was sollte er mit der Firma? Sie interessierte ihn einen Dreck! Das geerbte Geld reichte, um sich ein bescheidenes Leben lang auf die faule Haut zu legen, ein bisschen Künstler heraushängen zu lassen, Freunde zu kaufen. Er war genügsam, gewohnt, mit wenig auszukommen. Die mangelnde Unterstützung der vergangenen Jahre hatte ihn abgehärtet.
Jan spielte mit dem Knauf der Schublade. Als es in der Stille des Raumes an der Tür klopfte, zuckte er zusammen. Ein junger Mann öffnete, ohne eine Aufforderung dazu abzuwarten, und steckte den Kopf durch den Spalt. Jan erkannte Kemal Akdas, den Rechtsberater seines Vaters. Der Einzige, den er hier überhaupt näher kannte. Nun betrachtete er ihn als Teil der Erbmasse, die man ihm ans Bein gebunden hatte.
»Darf ich hereinkommen?«
Jan nickte wortlos. Der Kerl würde sowieso eindringen, egal, was er antwortete.
Zögernd betrat der Mann mit den ordentlich gekämmten schwarzen Haaren und dem gebügelten Anzug das Chefbüro. In den Händen trug er einen langweilig aussehenden Ordner und eine geöffnete Fächermappe, deren aufgeklappter Zustand Jan an ein gähnendes Maul erinnerte.
Kemal stellte sich vor den Schreibtisch und musterte ihn aus tiefdunklen Augen.
»Ich störe Sie nur ungern …«
»Warum tun Sie es doch?«
Der scharfe Ton seines neuen Chefs ließ Kemals Gesichtszüge entgleisen, aber nur kurz.
»Es gibt ein paar laufende Terminsachen, die geklärt werden müssen und in der Post von heute …«
»Kann das nicht die Zicke im Vorraum erledigen? Wofür habe ich sie?«
Kemal räusperte sich.
»Sie