TENTAKEL DES HIMMELS. Heike Vullriede

TENTAKEL DES HIMMELS - Heike Vullriede


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weit.«

      »Was unterscheidet denn Aberglauben vom Glauben?«, fragte Jan. »Jede Religion pachtet für sich die Wahrheit. Warum soll die Wahrheit dieser Sekte falscher sein als die der anderen?«

      Kemal dachte eine Weile nach. Diese Frage konnte er nicht einmal für sich selbst beantworten. Also schwieg er dazu. Dass Torberg aber fast philosophisch in die Tiefe fragte, wunderte ihn. Er hatte ihn für einen oberflächlichen Trampel gehalten.

      Inzwischen hatte sich der Himmel derart verdunkelt, dass man den Eindruck eines drohenden Unwetters erhielt. Jan ließ den Wagen in einigem Abstand zum Gebäude und mit der Motorhaube zur Einfahrt hin parken. Es gab ihm ein sichereres Gefühl, im Notfall mit dem Gefährt näher am Ausgang zu sein. Er warf einen Blick auf das Tor und registrierte mit Unbehagen, wie es sich verschloss.

      »Ich würde gern etwas essen. Wann brauchen Sie mich wieder?«, fragte der Fahrer.

      »Sehen Sie hier ein Bistro zum Einkehren? Nein, Sie bleiben hier und warten.«

      »Arschloch«, flüsterte es vom Fahrersitz aus.

      »Das habe ich gehört.«

      Als Jan und Kemal ausstiegen und ihre steif gewordenen Beine endlich wieder ausstreckten, öffnete sich die angesammelte Masse tiefdunkler Wolken und Regen ergoss sich sintflutartig über der Stadt. Binnen Sekunden verwandelte sich die graue Pflasterung in Schwarz und schon flossen kleine Rinnsale den Boden entlang. Kemal hielt es für einen Wink Gottes, sich lieber wieder ins Taxi zu verkriechen und davonzufahren. Trotzdem rannte er mit der Jacke auf dem Kopf über den Hof, um sich in den schützenden Eingang des Gebäudes zu stellen. Direkt dahinter folgte ihm Jan Torberg mit großen Schritten. Jans Füße patschten jedes Mal in kleine Pfützen und erinnerten ihn sofort daran, dass seine Schuhe mit vernünftigem Schuhwerk nichts gemeinsam hatten.

      Kaum aber hatten sie den Eingang erreicht, beruhigte sich das Wetter wieder. Der Regen verstummte und nur noch vom Dach des Hauses und den angrenzenden Bäumen plätscherte Wasser, sammelte sich in Pfützen, und alles verlief in kleinen Bächen, um in den Gullys zu verschwinden.

      Während sie erst den aufklarenden Himmel und dann sich selbst betrachteten, fragten sich beide, warum sie nicht zwei Minuten gewartet hatten. Kemal lächelte schadenfroh, als er in Jans vor Nässe triefendes Gesicht sah. Und der Taxifahrer lachte im Wagen so laut, dass sie es durch die geschlossenen Fenster selbst aus der Entfernung hörten. Doch Jan grinste ebenso und Kemal bemerkte, wie wenig besser er dastand. Im Gegenteil, ihm war, als wirke ein Mann in einem völlig durchnässten Anzug noch lächerlicher als ein Mann in verschlissener, durchnässter Jeans. Leider war Kemal der Mann im Anzug und es ärgerte ihn, dass es Torberg überhaupt nichts ausmachte, ihm dagegen sehr viel. Das war etwas Grundlegendes, das sie unterschied und das stocherte in Kemals Selbstbewusstsein, seit er den jungen Torberg kannte.

      Wortlos folgte er seinem Chef durch eine Glastür in die geräumige Eingangshalle des Gebäudes. Er hatte fast das Verlangen, seine Schuhe auszuziehen, als er den auffallend sauberen Teppich im Eingangsbereich betrat – weinrot auf goldschimmernden Fliesen. Kemal rümpfte die Nase und dachte an den bescheidenen Imam der kleinen Moschee seines Stadtteils in Hamburg. Torberg begrüßte den Pförtner, der hinter einer gläsernen Schutzwand auf ihn wartete. In der Zwischenzeit studierte Kemal einen Ständer mit glänzenden Prospekten und eine Informationstafel, auf der Plakate und Fotos das Leben der Gemeinde illustrierten – zumindest das Leben, das sie nach außen hin führten. An den Wänden hingen Fotografien, welche wohl einige der Kirchen des Lichts zeigten. Auch darauf fand er keine sakral anmutenden Bauwerke. Dafür aber ehrfurchtsvolle Gesichter, glückliches und dummes Lächeln vor den Mauern weiß verputzter Häuser und immer wieder ein riesenhafter Mann in weißem Gewand mit goldenen Ornamenten. Der Mann lächelte kühl und hob die Hände wie zum Segnen, oder er tätschelte den Kopf eines Kindes. Auf einem der Fotos schien er vor einem armen Dorf irgendwo in Osteuropa zu posieren, umringt von lachenden Menschen.

      Kemal nahm soeben den Fahrstuhl ihm gegenüber wahr, da sah er Torberg im Treppenhaus daneben verschwinden. Der Pförtner rief ihm mit lauter Stimme etwas hinterher, doch Torberg überhörte ihn schlicht.

      Der lässt mich hier stehen, durchzuckte es Kemal.

      Noch während sich Kemal mit dem herbeigeeilten Pförtner auseinandersetzte, öffnete sich der Fahrstuhl und ein Mann stieg aus. Mit affektiert erhobenem Haupt trat er Kemal entgegen.

      »Wolff … wir hatten Sie eher erwartet!« Unnachsichtig sah Wolff den Verspäteten an. »Sind Sie aufgehalten worden? Hätten Sie sich unterwegs nicht melden können? Wir sind es nicht gewohnt, dass man uns warten lässt.«

      Bevor Kemal antworten konnte, trat eine junge Frau in elegantem Kostüm Wolff zur Seite. Sie flüsterte ihrem Kollegen etwas zu.

      Verwirrt betrachtete er Kemal. »Sie sind nicht Jan Torberg?«

      Der bis dahin verdutzte junge Mann erhob seinen Kopf. »Nein – Gott bewahre! Ich bin nur sein Begleiter. Mein Name ist Kemal Akdas, Sekretär und Rechtsberater des Herrn Torberg«, sagte er, froh, seine Person von dem Verdacht befreit zu haben.

      Anna wusste, dass Wolff augenblicklich seine inneren Pläne bedroht sah. Und Pläne brauchte er. Er wagte selten Spontanes. Alle seine kleinlichen Vorbereitungen für dieses Treffen zwischen Torberg und ihrem großen Chef und Vater, wackelten seit zwei Stunden bodenlos.

      »Aber wieso…? Ist denn Herr Torberg nicht mit Ihnen gekommen?« Er klang ungehalten und blickte sich suchend um.

      »Ein Mann ist vorausgegangen, ohne dass ich ihn aufhalten konnte«, rief der aufgewühlte Pförtner und wies auf das Treppenhaus.

      »Sie müssen mir nicht ins Gesicht schreien«, entgegnete Wolff.

      Doch der Pförtner schaffte es vor Aufregung nicht, seine Stimme zu dämpfen. »Ich hab sofort Alarm gegeben!«

      »Was? Wieso Alarm gegeben?« Kemal fühlte sich wie ein Einbrecher, ertappt und gestellt. Doch Wolff verzog nur seinen Mund, fuhr mit der Hand durch sein Haar und seufzte strapaziert auf. »Also kommen Sie, fahren wir nach oben. Dieser Torberg wird sich schon melden.«

      Konzeptlos betrat Wolff mit Kemal und Anna den Fahrstuhl.

      »Wieso Alarm gegeben?«, fragte Kemal noch einmal.

      Doch darauf bekam er keine Antwort. Stattdessen öffnete sich die Fahrstuhltür schon in der nächsten Etage und vor ihnen stand Jan Torberg. Anna erkannte ihn sofort. Zwar waren Jahre vergangen, doch diese Gestalt war ihr seitdem im Gedächtnis geblieben.

      Grußlos stieg er ein und musterte Wolff aus nächster Nähe ausgiebig. Der warf einen fragenden Blick auf Anna – sie bestätigte mit kurzem Nicken und nutzte die Gelegenheit, Torberg heimlich zu betrachten. Dass er und sein Begleiter in einen Regenguss gekommen waren, konnten sie nicht leugnen. Hochgewachsen und schlank stand er da, gerade aufgerichtet und er sah auf Wolff hinab, ohne seinen Kopf zu senken. Sie amüsierte sich innerlich. Wolff hasste es, zu jemand anderem aufblicken zu müssen als zum Padre.

      Torbergs Schuhe hinterließen im Fahrstuhl eine beachtliche Pfütze. In ausgebeulter Jeans und abgetragener Jacke entsprach er so gar nicht dem Bild des reichen Firmeninhabers, der er nach Antritt seines Erbes nun war. Aber etwas anderes hatte Anna auch nicht erwartet. Verstohlen lächelte sie, als sie in Wolffs vor Eitelkeit gekränktes Gesicht sah. Während der langen Sekunden im Fahrstuhl ließ Torberg nicht einmal den Blick von ihm.

      Sieh an, Torberg ist älter geworden, dachte sie. Sein Gesicht schien ihr wesentlich verlebter als früher, das nasse Haar strohiger. Vielleicht trank er oder, noch wahrscheinlicher, hatte er Drogen genommen, oder beides zusammen. Gesund sah er jedenfalls nicht aus. Nur der Bart, der seine schmalen, aber weich geschwungenen Lippen von der Nase bis zum Kinn dünn umhüllte, war genauso flusig, wie sie es von früher kannte. Er hätte sich lieber rasieren sollen, doch glattrasiert und etwas gepflegt war er sowieso nicht vorstellbar. Sie hatte seine Augenbrauen vergessen, die schwarz und überdeutlich eine dicke Linie über seine hellen Augen zogen. Sie wuchsen in der Mitte fast zusammen und prägten entscheidend dieses eigenwillige Gesicht.

      Der Aufzug hielt in


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