Draußen abtauchen. Uwe Habenicht
das Gefühl des Fremdseins und der Entfremdung gehört wohl ebenso zur Signatur unserer Zeit wie der Verlust des Raumes und die Beschleunigung der Zeit. „Überforderung stellt sich ein, wenn Subjekte trotz Mobilisierung aller Fähigkeiten und Ressourcen äußere und innere Anforderungen nicht mehr erfüllen können und zugleich diese Forderungen als fremd erfahren, ja sich ihnen ohnmächtig unterworfen fühlen.“3
Wenn Religion im 21. Jahrhundert weiterhin von Bedeutsamkeit sein soll, muss sie einen Beitrag zur Bewältigung dieser Überforderungskrise leisten. Dem überlasteten und Burnout-gefährdeten Subjekt kann Religion nicht noch mehr auflasten und auferlegen, den Druck nicht noch weiter erhöhen. Vielmehr muss relevante Religion dem überforderten Subjekt Zeit und Raum zurückgeben, so dass Zeit wieder als erfüllte Zeit und Räume als leibhaftig erlebte Räume erfahren werden können.
Die gegenwärtige Achtsamkeitsbewegung kann als Versuch verstanden werden, der zunehmenden Überforderung etwas entgegenzusetzen. Das „achtsame Selbst“, das in der Lage ist, Anforderungen zu steuern und sich Ressourcen immer wieder zu erschließen, wird zum neuen Subjektideal stilisiert. „Wie bei anderen Optimierungsversprechen ist das achtsame Selbst dazu angehalten, immer achtsamer zu werden, immer präsenter und fokussierter zu sein und immer besser eigene Prioritäten zu strukturieren. Neben der potentiellen Unerfüllbarkeit dessen wird die Einzelne zudem dafür verantwortlich gemacht, dass diese Techniken schließlich auch aufgehen … Wem es nicht gelingt …, der ist für dieses Scheitern selbst verantwortlich.“4
Damit überfordern allerdings einige Ausprägungen der Achtsamkeitsbewegung das Konzept der Achtsamkeit und die um Achtsamkeit Bemühten gleich mit. Wenn individuell eingeübte Achtsamkeit strukturelle Probleme lösen soll, liegt die Verantwortung wieder beim Subjekt, das auch mit dieser weiteren Überforderung fertigwerden muss. Wir werden darauf zurückkommen.
Darum versteht sich Freestyle Religion als Weg aus dem Hamsterrad der Selbstoptimierung. Dem überforderten Einzelnen mit seinen Ansprüchen und seinem Scheitern soll nicht noch mehr aufgelastet werden. Vielmehr braucht es ein Verständnis von Religion, das den Einzelnen nicht allein lässt, ihn vielmehr erfahren lässt, dass er als Teil eines Ganzen immer schon eingebunden ist. Strukturell schwierige, ungerechte oder überfordernde Rahmenbedingungen können auf der individuellen Ebene nicht gelöst werden, dafür braucht es den politisch-öffentlichen Diskurs und gesellschaftliches Handeln. Freestyle Religion stemmt sich deswegen gegen eine überdehnte Individualisierung und Subjektivierung religiöser Erfahrung. Vielmehr braucht es verschiedene Bereiche, in denen Religion agiert, damit sie einen spürbaren Beitrag zur Bewältigung von Überforderung leisten kann.5
Ich habe versucht, Freestyle Religion als Fließgleichgewicht von drei Praxisbereichen zu beschreiben: dem Mystisch-Kontemplativen, dem Liturgisch-Kultischen und dem weltzugewandten Gestalten. Gelebte Religion entspricht damit den drei Achsen menschlichen Lebens: dem Horizontalen, in dem wir mit anderen kommunikativ und kooperativ in Interaktion treten, dem Vertikalen, in dem wir uns mit allem verbinden, was unser eigenes Leben übersteigt, und dem Diagonalen, in dem wir gestaltend mit Materie, Material und Strukturen umgehen. Das affektiv-leiblichen Betroffensein vom Göttlichen mit der Autorität unbedingten Ernstes (H. Schmitz), wie es in der Natur erlebt werden kann, schließt diese drei Dimensionen bereits ein. Handeln und gemeinschaftlicher Ritus sind damit in der religiösen Erfahrung selbst ursprünglich bereits angelegt und kommen nicht erst in einem weiteren Schritt hinzu. Damit lassen sich individualistische und rein kognitive Verengungen religiöser Erfahrung vermeiden. Freestyle Religion versteht sich als Diskussionsbeitrag zur Beschreibung religiöser Praxis mit dem Anspruch, zugleich Kriterien zu benennen, anhand derer zeitgenössische Spiritualitäten verortet werden können.
Für das Folgende ergibt sich somit: Zuerst müssen wir den Sog nach draußen verstehen und den Spuren folgen, die in die Natur führen. Warum zieht es uns so sehr nach draußen? Was ereignet sich in der Natur, was sich in unseren möblierten und designten Alltagsräumen nicht ereignet? Und dann sollten wir genau hinschauen, wie man sich der Natur jenseits naturwissenschaftlichen Verstehens nähern kann. Welche Zugänge zur Natur gibt es und was bedeutet es, dass es deren so viele gibt?
Im zweiten Teil finden wir einen schmalen Pfad, der uns in die Natur als Zwischenraum führen wird. Die Natur als Ort, an dem wir dessen gewahr werden, was mit uns zeitgleich diesen Raum teilt und sich uns mitteilt. Im intermediären Zwischenraum wird nach Donald W. Winnicott Abwesendes anwesend.
Der dritte Teil thematisiert die klassischen Orte der Gottesgegenwart und klärt, was wir meinen, wenn wir Gott sagen. Der vierte Teil entwickelt ein Verständnis der Natur als Ort der Gottesbegegnung, in dem der Mensch von göttlichen Atmosphären affektiv-leiblich betroffen wird. Praxisvorschläge für drinnen und draußen finden sich eingestreut zwischen den einzelnen Kapiteln. Zum Schluss des Buches gibt es darüber hinaus eine ausführliche Anleitung fürs Abtauchen in der Natur.
4.Die Rückkehr der Götter
Wenn wir wissen wollen, wie es einmal war, müssen wir die Dichter fragen. Sie haben das Gespür für die Anwesenheit der Götter auch als Erwachsene nicht verloren. Sie folgen den Spuren der Götter und finden dafür Wortzeichen, die wie Wegweiser die Richtung zeigen.
Wohin kehren wir zurück, wenn wir das Geborgensein der ersten Lebensjahre wieder zum Leben erwecken möchten? An welche Orte kehren wir zurück, um unsere „Götter“ zu erleben? „Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers.“6
Praxis: Orte der Erinnerung
Als Kinder hatten wir Orte in der Natur, die für uns das
Paradies waren: oben im Apfelbaum oder tief in einer Hecke
bergend und schützend versteckt. Diesen Ort (in der Phantasie
oder wirklich) aufsuchen und an ihm verweilen.
Albert Camus in Tipasa 7
Ein Foto fängt die Stimmung ein, damals 1935. Ein schmächtiger junger Mann raucht stehend, neben ihm drei junge Frauen. Die kleine Gruppe hat einen antiken Torbogen bestiegen. Einige blicken in die Weite und auf das vor ihnen liegende Ausgrabungsfeld. Die Schwarz-weiß-Aufnahme zeigt Albert Camus mit drei Freundinnen in Tipasa, einer antiken Ausgrabungsstätte rund 70 Kilometer westlich von Algier, dem Geburtsort Camus’. Vier Jahre später erzählt Camus in „Hochzeit in Tipasa“ von der Bedeutung dieses Ortes für ihn.
Der erste Satz seiner Erzählung taucht die Szenerie in mystisches Licht: „Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter.“ Was für ein verheißungsvoller Anfang. Nicht weniger als das Betreten des Paradieses muss auf diesen Anfang folgen. Denn wo sonst sollten die Götter zu finden sein?
„Zum letzten Mal, ehe wir das Reich der Ruinen betreten, sind wir Zuschauer.“8 Dieser Paradiesort der Götter hebt das Schicksal des Menschen auf, unbeteiligter Zuschauer zu sein. Wer die Schwelle zum Paradies überschreitet, lässt die alten schicksalhaften Spaltungen hinter sich, die Rilke in seiner 8. Duineser Elegie beklagt:
„Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
Und nichts als das und immer gegenüber …
Zuschauer, immer, überall …“ 9
In der spürbaren Gegenwart der Götter Tipasas gibt es keine distanzierten und unbeteiligten Zuschauer mehr. Vielmehr überwältigen die leiblichen Eindrücke dieses Ortes den Besucher so sehr, dass alles Erlebte unmittelbar und elementar wird. Hier kehrt alles zur Natur zurück, sogar die Steine werfen „die ihnen von Menschen aufgezwungene Glätte“ ab und gehen wieder in die Natur ein. Auf der hier gefeierten Hochzeit werden Blumen gestreut anlässlich der „Rückkehr dieser verlorenen Kinder“.
Buchstäblich