Seitensprungkind. Regula Brühwiler-Giacometti
ein herziges Schätzeli geworden? Letzte Woche bekam sie ihre zwei ersten Zähnchen (unten), zum Glück ohne Schmerzen. Bald, bald kann sie allein sitzen und im ‚Yompa-la‘ springt sie rückwärts schon durch die ganze Wohnung. Regula wiegt nun 7,8 kg und für ihr Alter ist sie sehr lang. Jeden Tag macht sie nun grosse Fortschritte; sie lacht und jauchzt den ganzen Tag. An diesem Kindlein haben wir wirklich riesige Freude. Durch ihre sonnige Art hat sie sich schon zum Liebling von ganz Cassarate gemacht! Indem ich Ihnen alles Gute wünsche, grüsse ich Sie herzlich.“
Es war für mich sehr rührend, als ich diese Briefe im Alter von 57 Jahren zum ersten Mal las. Tränen rollten über meine Wangen. Ich schien von meinen Adoptiveltern voll akzeptiert worden zu sein und sie hatten große Freude an mir. Aber wie fühlte ich mich bei ihnen? Wie sah es in meiner Seele aus? Was verdeckte mein Lachen und Jauchzen den ganzen Tag? Auf jeden Fall sah es von außen so aus, dass es mir gut ging, und ich möchte auch nicht daran zweifeln.
Kurz nach meinem ersten Geburtstag folgte im November 1959 ein weiterer Brief von meiner Mami an die Adoptionsvermittlungsstelle:
„Schon seit einiger Zeit haben Sie nicht mehr von uns gehört. Wie Sie auf den Phöteli sehen können, wird unsere Regula immer herziger und sie kann jetzt schon laufen. Sie macht jeden Tag Fortschritte und wir haben grosse Freude an unsere Regula. Vor sechs Wochen hatte Regeli hohes Fieber und Halsweh und seit da schläft sie in der Nacht sehr schlecht. Es kann sein, dass es vom Penicillin ist, welches in der Medizin war und ev. hat auch die Kinderlähmungs-Einspritzung eine nachteilige Wirkung. Sie wurde vom Arzt gründlich untersucht, aber es scheint nur eine vorübergehende Störung zu sein. Bis jetzt konnte ich mich ja wirklich nicht beklagen, denn ausser dieser Schlaflosigkeit war Regula ein ganz liebes, braves Meiteli. Bestimmt wird auch diese Zeit bald vorbeigehen und dann werde ich mein Schlafmanko wieder gründlich aufholen. Regeli hat nun schon sieben Zähnli, drei unten und vier oben, und sie wiegt 10 kg. Für 13 Monate ist sie sehr gross. Auch die Haare werden langsam länger und wie Sie auf dem Photo sehen können, bekommt Regeli herzige ‚Chruseli‘. Ich finde wirklich, dass es kein hübscheres Meiteli gibt als meine Tochter! Ihrem Unternehmen wünsche ich weiterhin alles Gute und grüsse Sie alle herzlich, Ihre Hedi Giacometti“.
Ich war oft krank und hatte massive Schlafstörungen. Meine Mami hat mir viel von jener Zeit berichtet. Sie sagte mir, ich schlief praktisch nie, den ganzen Tag und die ganze Nacht blieb ich wach. Meine Mami und mein Papi erzählten mir, dass sie im Turnus während der Nacht wach geblieben sind: bis 2 Uhr morgens wachte mein Papi über mich, dann übernahm meine Mami. Es war eine herausfordernde und nervenaufreibende Situation. Sie suchten Rat beim Hausarzt, doch auch er konnte sich die Ursache offenbar nicht genau erklären. Auch nach einer gründlichen Untersuchung konnte er keine ersichtliche Krankheit feststellen. Die Vermutung lag nahe, dass es eine Reaktion auf das Penicillin war oder eventuell durch die Kinderlähmungsimpfung ausgelöst worden sei. Der Arzt war der Meinung, dass es sich sicher bald wieder normalisieren würde. Doch er sollte nicht recht behalten: Dieser Zustand dauerte etwa 9 Monate an und meine Eltern erzählten mir immer wieder, dass ich während dieser Zeit nie geschlafen hätte. Als sie erneut den Hausarzt aufsuchten, glaubte er ihnen nicht. Er sagte: „Kein Mensch überlebt so lange Zeit ohne zu schlafen.“ Und so fühlten sich meine Adoptiveltern alleingelassen. Es war wirklich eine schreckliche Zeit für sie.
Durch die ständige Unruhe entwickelte meine Mami in dieser Zeit eine Schlafstörung, und sie erhielt vom Arzt dann die ersten Schlafmittel, die auf dem Markt zu haben waren. Was damals noch nicht bekannt war: Diese Tabletten machten abhängig, und auch meine Mami wurde ihr Opfer und kam ein Leben lang nicht von diesen Medikamenten los. Tragisch. Sie sagte dann immer zu mir, dass ich daran schuld wäre, dass sie mit diesem Zeug angefangen hätte. Ich nehme ihr diese Vorwürfe nicht übel und weiß, sie wollte mich damit nicht verletzen und suchte nur nach einer Entschuldigung für ihre lebenslange Medikamentenabhängigkeit.
Am 8. März 1960 wurde ich von meinem Papi mit gerichtlicher Urkunde und Adoptionsvertrag adoptiert und habe seinen Familiennamen angenommen. Der Heimatort blieb noch der alte, so wie das Gesetz es damals vorsah. Die Behörden stellten mir aber einen neuen Geburtsschein aus, auf dem ich als Regula Giacometti eingetragen war. Ich war nun in meine neue Familie „wiedergeboren“, mit neuer Identität und einer neuen Identifizierung durch eine neue Geburtsurkunde – als ob ich in die Familie Giacometti hineingeboren worden wäre.
Am 6. Mai 1960, als ich bereits 1 ½ Jahre alt war, schrieb meine Mami Folgendes an die Adoptionsvermittlungsstelle:
„Schon lange Zeit haben Sie nichts mehr von uns gehört, dies will ich nun schnellstens nachholen. Wie Sie wahrscheinlich gehört haben, ist Regula inzwischen ein ‚Giacometteli‘ geworden und wir sind natürlich glücklich, dass Regeli nun ganz uns gehört. Sie ist immer noch ein liebes, herziges Meiteli und sie macht uns wirklich viel Freude. Leider schläft sie immer noch nicht, wie sie sollte; in der Nacht erwacht sie öfters und schreit, dass die ganze Nachbarschaft Konzert hat. Ich weiss nun nicht, ob dies mit den Zähnen zusammenhängt und ich hoffe sehr, dass Regula bald wieder besser schläft. Auch hat sie zwei schlimme Anginas gehabt; dies ist der schwache Punkt von unserer Tochter, denn, wie der Doktor sagt, hat sie schon jetzt schlimme Mandeln. Auf Rat vom Doktor, werden wir im Juni Regula nach Silvaplana geben, ein privates Kinderheim (sie nehmen nur 3–4 Kinder), während wir dann am Meer Ferien machen werden. Im Juli nehme ich sie dann mit mir nach Maloja, wo wir einen Monat Ferien machen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüsse Sie freundlich, H. Giacometti“.
Ich hatte immer noch Schlafstörungen und war des Öfteren krank, was sicher auch bei nicht adoptierten Kindern in diesem Alter der Fall sein kann. Ich erwachte viel in der Nacht und schrie laut. Wollte ich vielleicht meine Adoptiveltern testen, ob sie wirklich immer kommen und für mich da sind, wenn ich mich nicht wohl fühle oder Angst habe? Das Schreien in der Nacht zwang meine Eltern, mich aus dem Bettchen zu nehmen und mich zu beruhigen, da ich sonst die ganze Nachbarschaft aufgeweckt hätte.
Weil ich so oft Angina hatte, wurde ich auf Rat des Hausarztes für vier Wochen in ein privates Kinderheim in Silvaplana gebracht. Offenbar waren meine Adoptiveltern mit mir überfordert. Ich war erst 1 ½ Jahre alt, und schon wieder stand mir eine Trennung bevor. Was ging wohl in mir vor, als sich meine Adoptiveltern von mir verabschiedeten und ich mich erneut an eine neue Umgebung und an neue Bezugspersonen gewöhnen musste? Oder war etwa mein ständiges nächtliches Weinen der Grund, dass ich hierher versetzt wurde? Brauchten meine Adoptiveltern eine Auszeit, um sich von meinen Schlafstörungen beziehungsweise ihrer ständigen Pflege aufgrund meiner Krankheiten zu erholen? Meine Eltern fuhren in dieser Zeit ans Meer. Hätte mir die Meeresluft nicht auch gutgetan? Ich hatte als Kleinkind wieder keine Chance, die erneute Trennung irgendwie einzuordnen oder mich dagegen zu wehren. Würden meine Mami und mein Papi mich auch wieder abholen oder musste ich jetzt für immer hier bleiben? Wie war die Betreuung in diesem Kinderheim? Wusste man von all den Trennungen, die ich schon durchgemacht hatte?
Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass leider auch der Hausarzt keine Ahnung hatte, was eine erneute Trennung für ein so kleines Adoptivkind bedeutet und welche Auswirkungen diese haben kann. Wenn ich das schreibe, macht es mich sehr traurig. Ich hätte meinen Sohn in diesem Alter niemals für so lange Zeit in fremde Betreuung geben können! Und so kam es, wie es kommen musste: Als mich meine Adoptiveltern vier Wochen später wieder abholten, erkannte ich sie nicht wieder. Aus Erzählungen meiner Mami weiß ich, dass ich nicht mit ihnen weggehen wollte und wie am Spieß schrie.
Heutzutage ist es so, dass sogar bei kurzen Spitalaufenthalten die Eltern aufgefordert werden, einen großen Teil des Tages, und falls nötig auch die Nacht, beim Kind zu verbringen, um das Getrenntsein auf ein Minimum zu reduzieren, denn heute weiß man, dass eine lange Trennung zu einem seelischen Langzeittrauma führen kann und noch schwerwiegendere Störungen als meine sowieso schon vorhandenen Krankheiten hervorrufen kann.
„Auch bei leiblichen Kindern, die von der Mutter getrennt werden und bis dahin seelisch und körperlich gesund waren, können diese Kinder, je jünger sie sind, desto stärker, plötzlich körperlich und seelisch erkranken und sogar lebensgefährliche Erkrankungen entwickeln, woran sie schlimmstenfalls auch sterben können. Ihre Lebenskräfte sind durch den Weggang der Mutter geschwunden, die ihnen bisher, beginnend in der Schwangerschaft, als Kraftquelle diente.“ (Hellbrügge, 2003)