Epidemiologie für Dummies. Patrick Brzoska

Epidemiologie für Dummies - Patrick Brzoska


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zeigen wir gesundheitliche Ungleichheiten auf, ermitteln ihre Ursachen und messen, wie erfolgreich Maßnahmen zu ihrer Beseitigung sind. Das ist immerhin ein kleiner Beitrag zu einem großen Ziel.

      Epidemiologen sind Detektive

      IN DIESEM KAPITEL

       Wie Risiken in der Bevölkerung verteilt sind

       Gesundheitsprobleme erkennen und berichten

       Dr. John Snow und die Cholera in London

       Epidemiologische Detektivarbeit: Wer? Wo? Wann?

      Epidemiologen untersuchen Gesundheitsprobleme. Das tun Ärzte auch – beim einzelnen Patienten. Die Epidemiologen hingegen stellen ihre Diagnosen in der Bevölkerung. Dabei arbeiten sie wie Detektive. Indem sie Krankheitsursachen ermitteln, schaffen Epidemiologen die Grundlagen zur Lösung von Gesundheitsproblemen.

      Die Epidemiologie ist noch keine sehr alte Wissenschaft. Zwar gab es in früheren Jahrhunderten Vorläufer von Epidemiologen, so richtig beginnt die Geschichte unserer Wissenschaft aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts in London. Damals trugen die ersten Epidemiologen durch ihre Detektivarbeit dazu bei, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. Die herrschenden Gesundheitsprobleme waren akut und dramatisch.

      Wenn Sie Gedichte schreiben, werden Sie öfter das Gefühl haben, dass Goethe eigentlich schon alles gesagt hat. Goethe allerdings dürfte ähnlich gedacht haben, wenn er die Sonette oder die Dramen von Shakespeare las. Ob Künstler oder Wissenschaftler, wir alle stehen heute auf den Schultern von Giganten: Andere vor uns haben die wichtigen Grundsteine unserer Fachgebiete gelegt.

      In der Epidemiologie ist das nicht anders. Hinter wichtigen epidemiologischen Konzepten stecken zunächst ganz alltägliche Menschen. Erst durch ihre Beobachtungen und Entdeckungen wurden sie zu den Giganten, als die sie uns heute erscheinen.

Sie gehen gerne auf Partys? Viele Epidemiologen tun das auch. Daher sollten Sie die hohe Kunst des »Namedropping« beherrschen. Das bedeutet, dass Sie in jeder passenden und unpassenden Situation den Namen eines berühmten Epidemiologen unauffällig ins Gespräch einfließen lassen können. Dann müssen Sie nicht immer nur über Fußball reden. In diesem Kapitel stellen wir Ihnen drei Epidemiologen vor, die unser Fachgebiet besonders stark beeinflusst haben – drei unserer Helden.

      Risiken sind nicht zufällig verteilt

      Stellen Sie sich vor, alle Menschen hätten das gleiche Risiko zu erkranken oder zu versterben. Lungenkrebs beispielsweise würde völlig zufällig auftreten. Es würde keine Rolle spielen, ob Sie Raucher sind oder nicht. Wenn dem so wäre, würde es auch keine Epidemiologie geben.

      

Die Grundannahme der Epidemiologie ist, dass Risiken eben nicht zufällig in der Bevölkerung verteilt sind. Vielmehr gibt es Untergruppen in der Bevölkerung, die ein höheres Risiko haben, und solche, die ein niedrigeres Risiko haben. Epidemiologen wollen herausfinden, welches diese Gruppen sind und welche Faktoren zu dem erhöhten Risiko führen.

      Die Einsicht, dass Risiken nicht zufällig verteilt sind, mag banal klingen. Sie ist aber die Voraussetzung für jegliche epidemiologische Untersuchung. Einer der ersten, dem dies auffiel, war John Graunt (1620 bis 1674). Er lebte in London und war Kaufmann. Die Risiken des damaligen Stadtlebens erfuhr er hautnah: 1666 zerstörte ein Feuer große Teile von London. Dabei verlor Graunt auch sein Geschäft. Kurze Zeit später brach in der Stadt die Pest aus, der Tausende Menschen zum Opfer fielen.

      Bereits seit 1532 wurden alle Todesfälle in London registriert und in den sogenannten »Bills of Mortality« aufgelistet. John Graunt arbeitete sich durch diese Datenmengen, ganz ohne Computer. Dabei stellte er Regelmäßigkeiten fest: Nicht alle Menschen haben das gleiche Risiko, vorzeitig zu versterben.

       Kinder haben ein höheres Sterberisiko als Erwachsene,

       Männer haben ein höheres Sterberisiko als Frauen,

       in London liegt die Sterblichkeit höher als auf dem Lande.

      John Graunts Schlussfolgerung: Das Risiko von Krankheit und Tod ist innerhalb der Bevölkerung nicht zufällig verteilt. Graunt machte sich auch Gedanken über mögliche Ursachen für Unterschiede im Sterberisiko. Er vermutete, dass Überbevölkerung dazugehört. London war seinerzeit schon eine Großstadt, in der ein Teil der Bevölkerung in Armut, Enge und unter schlechten hygienischen Bedingungen lebte.

      

Auch die Bevölkerungsstatistiker (Demografen) zählen Graunt zu ihren Helden. Er entwickelte Verfahren, um die Lebenserwartung zu berechnen. Als Kaufmann versuchte er zudem, die wirtschaftlichen Verluste durch frühzeitige Todesfälle abzuschätzen. Ein zukunftsweisender Ansatz, den Ökonomen und Epidemiologen im 20. Jahrhundert wieder aufgriffen.

      In den 150 Jahren nach John Graunt wuchs London zur größten Stadt der Welt heran. Die gesundheitlichen Risiken für die Bewohner blieben erheblich, ihre Lebensbedingungen waren oft katastrophal. Daher verwundert es nicht, dass die Stadt weiterhin im Mittelpunkt der Entwicklung der Epidemiologie stand.

      Wiege der Epidemiologie: London im 19. Jahrhundert

      Verstädterung und Globalisierung sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Fabrikstädte entstanden bereits im 19. Jahrhundert in England; die Produkte wurden in die ganze Welt verkauft. Um die Rohstoffe und die Absatzmärkte zu sichern, führte England Kriege und schaffte ein Kolonialreich. Während ein kleinerer Teil der Bevölkerung sehr reich wurde, lebten viele Arbeiter und ihre Familien in großer Armut. Die Lebensbedingungen in den großen Industriestädten waren denen der Slums in heutigen Entwicklungsländern nicht unähnlich:

       Die Menschen lebten dicht zusammengedrängt in großer Enge. Ganze Familien mussten sich ein Zimmer teilen.

       Die hygienischen Verhältnisse waren schlecht: Sauberes Wasser war knapp, Toiletten gab es meist nicht.

       Die medizinische Versorgung war weitgehend wirkungslos, viele arme Menschen konnten sie sich gar nicht leisten.

      Auf dem Land war die Lebenserwartung aus unserer Sicht erschreckend niedrig: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag sie bei etwa 41 Jahren. Das ist nur vergleichbar mit heutigen afrikanischen Bürgerkriegsländern oder Ländern, in denen Aids wütet. Noch dramatisch schlechter war die Situation in den englischen Großstädten. Um 1830 lag die Lebenserwartung dort bei lediglich 35 Jahren. In den folgenden Jahren brach sie noch einmal drastisch ein und sank bis auf 29 Jahre. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg sie wieder etwas an. Der Grund, warum die Lebenserwartung so einbrach, war eine in Europa neue Seuche, die Angst und Entsetzen hervorrief: Cholera.

      Cholera in London


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