Epidemiologie für Dummies. Patrick Brzoska
alt=""/> Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse aus absoluten Zahlen. Snow hat lediglich die Zahl der Todesfälle erhoben, nicht aber die Zahl der Menschen, die ihr Wasser jeweils von den beiden Wasserwerken bezogen.
Ihnen ist sofort aufgefallen, dass viel mehr Kunden von Southwark & Vauxhall verstorben sind als von Lambeth. Rein theoretisch könnte das daran liegen, dass Lambeth viel weniger Kunden hatte als Southwark & Vauxhall. Nehmen Sie folgendes hypothetisches Extrembeispiel: Southwark & Vauxhall versorgt 286.000 Menschen (von denen nur 286 an Cholera verstarben), Lambeth lediglich 14 (die alle verstarben). Nun würden Sie – alles nur hypothetisch! – zu einem ganz anderen Schluss gelangen!
Snow hatte es versäumt, die Größe der Bezugsbevölkerung (also die Zahl der Menschen, die von den jeweiligen Wasserwerken versorgt wurden) zu erheben. Daher konnte er aus seinen Daten keine sicheren Schlüsse ziehen.
Snow lernte daraus. Beim nächsten Cholera-Ausbruch im Sommer 1854 beschaffte er sich Daten zur Anzahl der von beiden Wasserwerken versorgten Häuser und zu den Todesfällen in den beiden Versorgungsgebieten. In Tabelle 2.2 sehen Sie seine Daten.
Tabelle 2.2: Todesfälle an Cholera und Zahl der Häuser, nach Wasserversorgung. London, Sommer 1854
Wasserversorgung | Zahl der Häuser | Todesfälle | Risiko pro 1.000 |
---|---|---|---|
Southwark & Vauxhall Company | 40.046 | 1.263 | 31,5 |
Lambeth Company | 26.107 | 98 | 3,8 |
John Snow berechnete das Risiko der Southwark & Vauxhall-Kunden, an Cholera zu versterben, wie folgt:
Durch die Multiplikation mit 1.000 erhielt Snow das Risiko pro 1.000 Haushalte, an Cholera zu versterben. Pro 1.000 Haushalte, die ihr Trinkwasser von Southwark & Vauxhall bezogen, starben 31,5 Personen an Cholera.
Epidemiologen stört es in aller Regel nicht, wenn sie es mit Bruchteilen von Personen (hier: mit halben Personen) zu tun haben. Bitte lassen Sie sich dadurch nicht irritieren!
Als Nächstes berechnete Snow das Risiko für Lambeth-Kunden:
Pro 1.000 Haushalte, die ihr Trinkwasser von Lambeth bezogen, starben 3,8 Personen an Cholera.
Nun hatte Snow solide Daten, die eine Bezugsbevölkerung enthalten. Der Tatsache, dass die beiden Bezugsbevölkerungen unterschiedlich groß sind, hatte er Rechnung getragen, indem er das Risiko pro 1.000 Haushalte ausdrückte. So werden die Risiken unmittelbar miteinander vergleichbar. Er konnte nun daraus schließen, dass das Risiko eines Choleratodesfalls für Southwark & Vauxhall-Kunden erheblich höher ist als für Lambeth-Kunden.
Aber wievielmal höher ist es? Um das herauszufinden, dividieren Sie 31,5 durch 3,8 und erhalten 8,3. Das bedeutet: Southwark & Vauxhall-Kunden haben ein 8,3-mal so hohes Risiko, an Cholera zu versterben, wie Lambeth-Kunden. Epidemiologen nennen das ein »Relatives Risiko«, denn es gibt ja das Risiko der Southwark & Vauxhall-Kunden relativ zu dem der Lambeth-Kunden an. In Kapitel 6 erfahren Sie mehr über das Relative Risiko.
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass Snow nur die Zahl der von den beiden Wasserwerken versorgten Haushalte zur Verfügung hatte, nicht aber die Zahl der betreffenden Personen. Daraus könnte sich natürlich ein Fehlschluss ergeben, wenn in den Haushalten, die ihr Wasser von Southwark & Vauxhall bezogen, jeweils deutlich mehr Menschen lebten als in den von Lambeth versorgten Haushalten. Dies war aber vermutlich nicht der Fall, denn es handelte sich ja um benachbarte Häuser in derselben Wohngegend.
Wo traten die Choleratodesfälle auf?
Im Sommer 1854 ereignete sich ein Cholera-Ausbruch im Stadtteil Soho (zwischen Piccadilly Circus und Oxford Street). Die Menschen dort bezogen ihr Trinkwasser nicht aus der Themse, sondern aus Wasserpumpen mit einem Pumpschwengel.
Snow erfragte die Adressen aller Menschen, die in Soho an Cholera verstorben waren. Er stellte fest, dass sich die meisten Todesfälle in der Broad Street ereignet hatten. Einer seiner Kollegen zeichnete später eine Karte, die Sie in Abbildung 2.1 sehen können. Auch heute noch zeichnen Epidemiologen ähnliche Karten, wenn sie einen Ausbruch untersuchen. Sie heißen »Punktkarten«, da jeder Fall als Punkt eingetragen wird.
Abbildung 2.1: Punktkarte des Cholera-Ausbruchs in Soho, 1854
Auf der Karte sehen Sie nicht nur die Todesfälle, sondern auch die Standorte der Wasserpumpen (mit Kreuzen markiert). Snow fiel auf, dass sich die meisten Todesfälle um die Pumpe in der Broad Street konzentrieren. Er vermutete daher, dass diese Pumpe der Ausgangspunkt des Ausbruchs gewesen sei. Auch weitere Indizien sprachen dafür:
Eine Frau im weit entfernten West Hampstead bezog ihr Trinkwasser regelmäßig von der Pumpe in der Broad Street, da sie es für besonders schmackhaft hielt. Sie und ihre zu Besuch weilende Nichte waren die einzigen beiden Choleratodesfälle in West Hampstead.
In einer Brauerei in der Broad Street gab es keine Todesfälle durch Cholera. (Wir sind fest davon überzeugt, dass das an der gesundheitsförderlichen Wirkung des Biers lag. Andere Autoren behaupten, dass die Brauerei ihre eigene Wasserversorgung hatte.)
Snow war nun überzeugt, dass die Pumpe für den Ausbruch verantwortlich war. Er veranlasste die lokale Verwaltung, den Pumpenschwengel zu entfernen. So konnte niemand mehr Wasser an dieser Pumpe holen und sich mit Cholera infizieren.
Das Entfernen des Pumpenschwengels ist die wohl berühmteste Intervention in der Epidemiologie. Wenn Sie in einem Epidemiologiebuch das Bild einer Wasserpumpe ohne Schwengel sehen, dann denken Sie an die Geschichte unseres Helden John Snow!
Wann traten die Choleratodesfälle auf?
Beim Cholera-Ausbruch in Soho erhob Snow auch Daten zum jeweiligen Tag des Krankheitsbeginns aller Verstorbenen und trug sie in einer sogenannten epidemischen Kurve auf. Auf der (waagerechten) x-Achse stehen die einzelnen Tage des Krankheitsausbruchs, auf der (senkrechten) y-Achse die Anzahl der Verstorbenen, die am jeweiligen Tag erkrankten. Das Ergebnis zeigt Ihnen Abbildung 2.2.