Abstufung dreier Nuancen von Grau. Kristiane Kondrat

Abstufung dreier Nuancen von Grau - Kristiane Kondrat


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welche Bewegungen an welchen Tagen als strafbar galten. Die Standpunkte, nach denen etwas als falsch oder richtig eingeordnet wurde, änderten sich von Tag zu Tag, manchmal wechselten sie auch im Laufe des Tages. Man konnte den Zeitpunkt eines Erdbebens vorausberechnen und rechtzeitig Maßnahmen zur Rettung der Menschen in diesem Gebiet einleiten. Das Wirken der Namenlosen jedoch konnte man nicht voraussehen, nie vorher wissen, wann sie demnächst um sich greifen und wen sie sich holen würden.

      Eine Zeitlang hatte ich mich in meine Wohnung eingeschlossen und niemandem geöffnet. Ich dachte über alle möglichen Fragen nach, die sie mir noch stellen könnten, die sie bisher noch nicht gestellt hatten, suchte nach möglichen Antworten auf diese hypothetischen Fragen. Die Antworten mussten so formuliert sein, dass mir auch die Cleversten unter ihnen keine Schlinge daraus knüpfen konnten. Ich schrieb mir alle möglichen Antworten aller möglichen Fragen auf und begann sie auswendig zu lernen, wartete auf ein Klopfen an der Tür und wollte, sobald ich das Klopfen hörte, keine Bewegung mehr machen, meinen Atem ganz leise stellen, mich totstellen. Nicht öffnen. Mich totstellen, wie es manche Tiere tun, um zu überleben. Ich wollte nicht öffnen und lernte die möglichen Antworten auf die möglichen Fragen dennoch auswendig, um auf alles vorbereitet zu sein. Die wenigen guten Freunde, in die ich Vertrauen haben konnte, wussten, wie sie klopfen sollen.

      Eines Tages, es war kurz nachdem jene Unaussprechlichen mich zum ersten Mal zu sich bestellt hatten, klopfte es. Ein unvereinbartes Klopfen. Ich war noch nicht dort gewesen, wollte es auch nicht tun, hegte die törichte Hoffnung, dass sie mich in Ruhe lassen würden, wenn ich nicht hinginge, wollte Zeit gewinnen, nach Ausflüchten suchen, entschlüpfen. Es klopfte unentwegt, obwohl ich mich bereits vor Minuten totgestellt hatte. Wusste man dennoch, dass ich zu Hause war? Selbstverständlich wusste man es. Die Unaussprechlichen wussten alles. Schließlich wurde es still, Schritte entfernten sich. Ich konnte nun die Schleusen öffnen und meinem unterdrückten Atem freien Lauf lassen. Geräuschvoll und lange durchatmen. Einige Tage später erfuhr ich, dass es der Mann gewesen war, der immer wieder zum Holz hacken kam. Ich hatte lange Tage kein Kleinholz mehr für meinen Ofen. Bis ich ihn zufällig auf der Straße traf und wir einen Holzspalttag in der Woche, zu einer bestimmten Uhrzeit, vereinbarten. Später, als ich bereits jenseits der Landesgrenze war, hat sich einiges von dem damals Erlebten auf eine andere, jedoch ähnliche Weise wiederholt, jedoch ohne dass die Notwendigkeit von Kleinholz jemals wieder eingetreten wäre.

      Die Angst vor Wiederholungen hat sich in mir verstärkt, seitdem ich meinen Kopf wieder nach links und nach rechts drehen kann. Auch die Zeit hat seitdem angefangen, ihr Tempo zu beschleunigen. Und es gibt auch wieder Leute, die vorgeben, mich zu kennen, mich schon irgendwo gesehen zu haben. Wie diese Frau im Bett rechts vom Fenster. Sie will meine Erinnerung auffrischen. Heute morgen hat sie es schon einmal versucht, jetzt versucht sie es wieder.

      Die neugieriglangweilige Frau rechts vom Fenster versucht mich wieder anzupeilen, ich schüttele, rüttele den Wortschwall ab. Nachdem die Betten gemacht worden sind und die Frau am Fenster einen zweiten Anlauf nimmt, heult schon der Rettungswagen draußen vor dem großen Tor und rettet mich. Er fährt zum Tor herein, die Treppe herauf, den langelangen Flur lang, fährt ein in unser Krankenzimmer, hält vor dem leeren Bett in der Mitte, niemand steigt aus, keiner steigt ein, es war falscher Alarm.

      Die Tablettenschwester kommt herein, bringt auf ihrem Tablett die Pillen gegen den Unschlaf, gegen die kommende Unnacht, gegen den ablaufenden Untag. Die Oberschwester bringt mir die Krücken. Kurz darauf kommt eine Unterschwester, die mir zeigt, wie man damit vorankommt. Sie kommt besser voran als ich. Ich probiere es noch einmal und immer wieder auf dem langen Flur. Dann im Treppenhaus. Fünf Stufen hinauf und dann die fünf Stufen wieder hinab. Die Schwester sagt »Bravo«, die Nachmittagsschwester. Ich bin so stolz, dass ich mich am Abend mit meinen Krücken gleich zehn Stufen hochquäle. Und wieder hinunter.

      Am nächsten Vormittag wieder. Die Vormittagsschwester sagt aber nicht »Bravo«. So schnell gewöhnt man sich an den Erfolg. Um die Mittagszeit gehe ich fünfzehn Stufen hoch, auf dass die Mittagsschwester »Bravo« sage. Sie sagt, dass »wir gut vorankommen«, sie ist stolz auf uns, sie ist überzeugt, mich motiviert zu haben, und wartet so lange unten am Treppenabsatz, bis ich zwanzig Stufen schaffe.

      Schon schreiten wir den langen Flur auf und ab, ich und mein spärlicher Schatten, von einem spärlichen Licht verursacht. Vom Flurfenster hat man einen Ausblick auf die Hausdächer der Innenstadt, links der Schacht eines Innenhofs, rechts die tiefe Schlucht einer Straße, die von einer blauen Straßenbahn durchfahren wird.

      Diese bedrückende Stille, die sich wie ein langgezogener Heulton anhört, alles, was hier geschieht, vollzieht sich in der Stille eines langgezogenen Heultons, der zu Besuchszeiten abgelöst wird von einem immerwährenden, abgedämpften, undramatischen Summton, einem Abschnitt der Zeitlosigkeit. Dieser Summton wird an einem Sonntag unterbrochen von der Ankunft eines Hubschraubers auf dem Hausdach. Er fliegt aber bald wieder weg, hatte sich verflogen, war auf einem nestlosen Dach gelandet.

      Der Professor lächelt im Vorbeigehen die rechte Wand an, jetzt weiß ich, wie er aussieht, sie hatten alle von ihm gesprochen, an der kalten Flurwand kondensiert das skeptische Lächeln des weißen Mannes. Die Wand trieft. Nur kurz sehe ich die Frau im blaugrauen, samtschimmernden Morgenmantel unten am Treppenabsatz stehen und höre sie lachen. Ein Sonnenstrahl fällt aus dem langen Fenster hoch oben und trifft sie in voller Grelle. Sie lacht tötend laut, hysterisch, ohnmächtig, mit einem Schrei, der alles übertönen will, was ihr widerfährt. Sie ist außerstande, die Treppe hochzusteigen, und versucht nun, diese Treppe totzulachen. Die bleibt aber unberührt stehen, sie steinert schon über hundert Jahre hier und wird in abgewetztem Zustand jedoch standhaft weitersteinern. Keine Tageszeitschwester ist in der Nähe, und ich kann der Frau im blaugrauen Morgenmantel nicht helfen.

      Die Wunde zerreißt das Gewebe aus sonntäglichen Summtönen, das Fieber meldet sich wieder, die ungnädige Schwester von den Schwestern verschleiert den Tischstuhl mit der verkrampften Einbuchtung, bitte locker, ganz locker, Nachtfalter schweben zum Fenster herein, lösen die Tagesfalter ab, die Vereinten Nationen walten ihres Amtes, Kanonendonner nähert sich, lichterloh schlägt eine Granate ein, doch die Vereinten Nationen walten weiter, am Bettfuß steht der Name. Der Vorsitzende hält eine Rede über den Frieden, eine Rede an die Wunde, an die Wände, die Nachrichten sind vorbei, und wir atmen erleichtert auf, wir müssen den Frieden festigen, wie geht es uns heute.

      Die Neue, die heute freiwillig hier eingetroffen ist und neben der Tür liegt, hat ein Fernsehgerät mitgebracht. Jetzt geht dort einer durch den Sand, er geht ständig auf und ab, von einem Rand des Bildschirms zum anderen, er hat nicht viel Platz, es ist ein kleiner, handlicher Fernseher, der Mann, der da durch den Sand geht, hat nur eine kleine Fläche zur Verfügung, kann sich nur in der eng eingerahmten Landschaft bewegen, er geht über eine weite Sandebene, die in einem kleinen Rechteck eingefangen ist.

      Jeden Tag das gleiche Zeremoniell der Visite: Geheimsprache, heute etwas feierlicher als am Vortag, der große Professor ist dabei, Beschwörungsformeln werden an die Assistenzärzte weitergegeben, alle sind mit Notizblöcken zur Zeugenaussage erschienen, die Presse ist geladen, sich vor dem Professor zurückziehende, kittelflatternde Schwesternschülerinnen verstecken sich in Nischen und flüstern, Pazifisten werden versackt, verschnürt und abgeliefert, es donnert und flammt hinter der Rede bei den Vereinten Nationen, ich erwache immer wieder aus dem gleichen Traum, die Patientinnen ziehen die Decke bis zum Kinn, die Oberschwester enthüllt sie wieder, bietet sie dem Professor an, Finger an die Wunde, der Professor schaut den Oberarzt bedeutsam an, der Oberarzt den Unterarzt, immer noch bedeutsam, der Unterarzt die Medizinstudenten, die Schwester schaut nichtssagend den Bruder an, nicht meine Schwester, nicht deine Schwester, Schwester schlechthin, nicht mein Bruder, kein Muttervater, sich im Schatten der Geräte versteckende Schwesternelevinnen.

      Ich bin eingenickt und wache wieder auf, als ich die Tür höre: Mit dem Gipsabdruck eines Lächelns bringt die Oberschwester ein schlimmes Telegramm auf dem Tablett. Ihr Gang ist gerade, die Spur ihrer Schritte mit dem Lineal gezogen, zielschnurstracks eingestellt. Die korrektstraffe Haltung der Schulter ermöglicht die vorgeschriebene Spannung der weißen Kittelknöpfe über dem Busen. Sie bietet das Telegramm dar, doch keiner will es haben, die Patientinnen drehen sich um in ihren Betten und ziehen die weißen Decken über das


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