Abstufung dreier Nuancen von Grau. Kristiane Kondrat

Abstufung dreier Nuancen von Grau - Kristiane Kondrat


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und ihn sehr strafend anschauten: Die Schlange aber war weg und die harmlose, dösende Wartestille wieder eingetreten.

      Solange ihn die Augen der Wartenden musterten, drohte ihm keine Gefahr von der Schlange, und so versuchte er diese Mitwartenden wach und bei Laune zu halten. Der dicke, blasse Knabe war nicht mehr still und kämpfte um sein Leben. Er wurde immer lauter, bis die Sprechstundenhilfe den Tesafilmstreifen von der Tür löste, sie öffnete, hereintrat, sich den blassen Knaben schnappte, um mit ihm durch die Tür zu verschwinden. Danach wurde die Tür wieder geschlossen und zugeklebt. Spät am Abend erst wurde sie wieder geöffnet, der Pförtner des Krankenhauses kam herein und schickte die noch verbliebenen Wartenden nach Hause. Die Sprechstundenhilfe und der Arzt seien schon längst nach Hause gegangen, sagte er. Ich befand mich unter den letzten, die den Warteraum verließen, schaute mich noch einmal im Raum um, um mich zu vergewissern, dass ich nichts liegengelassen hatte, und da sah ich sie: Die in das violette Mieder gezwängte Frau saß allein auf dem Stuhl und wartete weiter, ihr Rock floss immer noch aus ihrem Leib und bedeckte nun fast den ganzen Fußboden. Sie traf keine Anstalten, aufzustehen und den Raum zu verlassen. Ich ging.

      Ich gehe an der Tür vorbei, die man anscheinend vergessen hat, mit Tesafilm zu sichern, aus irgendeinem Grund bleibt ein dünner Spalt offen. Bis zum Ausgang habe ich noch zwei Stufen zu bewältigen, dann sind es noch einige Schritte durch die Eingangshalle, die jetzt für mich die Ausgangshalle ist. Die Ausgangshalle mit den zwei großen, oben abgerundeten Holztoren, das zweite Tor führt zum Garten, in dem ich das vorige Mal, als ich freiwillig hierhergekommen war, öfter spazierengegangen bin. Das Wesen der Tore ist alt, das Holz aber hat man erneuert, vielleicht schon mehrfach, es sieht hell und frisch aus und ist mit Holzschutz angestrichen. Der schwarze Metallgriff der Klinke windet sich wie ein trockenes, sich einrollendes Blatt im Herbst. Ob es noch die ursprüngliche Klinke ist, kann ich nicht beurteilen. So überlasse ich das Geheimnis seinem dazugehörigen Tor und entferne mich langsam auf meinen Krücken, strebe zäh und verbissen der Straßenbahnhaltestelle zu, steige in die erste Straßenbahn, die kommt, ein und bin entschlossen, bis zur Endhaltestelle zu fahren.

      Es ist die Neunzehn, die kommt, und sie ist voll. Ich muss stehen, es ist kein Platz mehr frei. Die Krücken lehne ich an die Waggonwand und halte mich mit beiden Händen an einer Lehne fest. An der ersten Haltestelle steigt niemand aus, einige steigen noch zu. Ich entschließe mich, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, vielleicht finde ich irgendwo eine Parkbank.

      Die nächste Haltestelle ist an einem Marktplatz: Überall Stände mit Obst und Blumen, eine Menge Leute. Er sieht genauso aus wie jener Marktplatz in Turmstadt. Auch hier steht ein Kirchlein auf der anderen Seite, jenseits dieses bunten Gewimmels, es scheint meilenweit entfernt zu sein. Zwischen mir und dem Kirchlein hat sich eine ganze Welt aufgetürmt, die vielen grellen, bunten Schirme haben die Häuser des Platzes verdrängt und in den Hintergrund geschoben. Da war doch unweit der Kirche dieser Italiener mit seinem Obststand. Ich nannte ihn Luigi, wie er in Wirklichkeit hieß, weiß ich nicht, vielleicht hieß er auch Luigi. Bei Luigi kaufte ich immer mein Obst. Er hatte wunderschöne große Birnen, rotgoldene Aprikosen, knackige Kirschen. Jedesmal wartete eine lange Menschenschlange vor Luigis Obststand. Eines Tages kaufte ich Birnen, jede Birne so groß wie eine Orange. In einer braunen Papiertüte, wie immer. Zu Hause angekommen, nahm ich die Riesenbirnen einzeln aus der Tüte und musste feststellen, dass die unterste gänzlich verfault war. Ich war sehr enttäuscht von Luigi, war verärgert und nahm mir vor, es ihm heimzuzahlen. Ja, das war’s: zahlen!

      Einige Tage lang sammelte ich Pfennigstücke, so lange, bis ich den passenden Betrag für vier Pfund Luigi-Kirschen beisammen hatte. Mit dem gezählten Geld, lauter Einpfennig-Münzen, ging ich zum Marktplatz und stellte mich vor dem Obststand des kleinen Gauners an, um ihn mit kleinen Münzen zu bezahlen. Ich ließ mir die Kirschen im Korb reichen und legte ihm dann die zwei Handvoll Kupfermünzen auf den Tisch, es sei alles abgezählt er dürfe nachzählen. Luigi wurde so rot wie seine Kirschen und wollte das Geld nicht haben. Er solle es nur nehmen, sagte ich, es passe gut zu ihm, ich hätte es mühsam für ihn gesammelt und genau abgezählt, er solle nachprüfen, ob es stimme. Ohne sein Nachzählen abzuwarten, ging ich, ich nehme an, er hat es nie nachgezählt, er war viel zu sehr beschäftigt mit lautem Schreien, es muss Italienisch gewesen sein, ich habe kein Wort verstanden, stellte nur fest, dass jedermann auf seine Muttersprache zurückgreift, wenn Emotionen plötzlich wie ausgespuckte Kirschkerne nach außen drängen. Ich ließ ihn schreien und ging weiter. Er war sehr verärgert, und das hat meinen eigenen Ärger über die faule Riesenbirne aufgewogen: Ich war ihm nicht mehr böse.

      Da ich ihm nicht mehr böse bin, würde ich ihn gerne wiedersehen zwischen all dem schönen Obst. Da fällt mir ein, dass ich in einer anderen Stadt bin. Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht: Ich hatte Luigi nicht betrogen, das Geld war auf den Pfennig abgezählt. Da Luigi nicht hier ist und mir alle anderen Obst- und Blumenverkäufer unbekannt sind, gehe ich zurück zur Haltestelle und steige wieder in die erste Straßenbahn ein, die gerade einfährt. Erst an der zweiten Station merke ich, dass es die falsche Richtung ist, ich muss am Marktplatz an der falschen Stelle eingestiegen sein. An der nächsten steige ich wieder aus. Es ist ein großer Platz, auf dem anscheinend eine Kundgebung stattfindet, viele Leute stehen umher, sie scheinen auf etwas zu warten. Die Gegend ist mir fremd, ich war nie zuvor hier gewesen. Vielleicht aber trügt mich das Gefühl des Fremdseins, wie mich auch das Gefühl des Vertrautseins auf dem Marktplatz getäuscht hat.

      Es ist mein fester Vorsatz, bis an den Stadtrand zu fahren. Hier bin ich anscheinend noch mitten im Stadtkern, es ist helllichter Tag, und trotzdem sieht alles so aus wie bei meinem ersten Besuch zu Hause, als es bei meiner Ankunft später Abend war. Es war nach langer, fast endgültiger Abwesenheit mein erster Besuch zu Hause. Vielleicht ist es die Menschenmenge auf dem Platz, die mich daran erinnert.

      Damals war ich spät am Abend angekommen und stand an jenem Platz im Zentrum, an dem ich umsteigen sollte. Ich konnte die Umsteigehaltestelle nicht mehr finden. Nach einer hoffnungsvollen Anreise mit vorweggenommener Wiedersehensfreude plötzlich dieses Gefühl der Fremdheit und Gefährdung.

      Ein zerpflückter Menschenhaufen bewegte sich in jenem hartblauen Neonlicht, das die ganze Landschaft bläulich verfremdete, den großen mathematisch gepflasterten Platz, der an zwei Seiten von den parallelen Linien der Straßenbahngleise durchstrichen und neutralisiert wurde. Das beleuchtete Ahornlaub junger Bäume warf Scherenschnittmuster auf den Asphalt des Gehsteigs. Die Männer und Frauen auf dem Platz wirkten aufgescheucht bis erwartungsvoll erregt. Sie sprachen viel und gestikulierten lebhaft. Ich war schon lange nicht mehr in dieser Stadt gewesen, stand nun auf einem etwas erhöhten Platz, von dem aus ich alles überblicken konnte, und suchte mit den Augen nach den Kennzeichen einer Straßenbahnhaltestelle. Sie hätte hier in der Nähe sein müssen. Da waren wir immer eingestiegen, um bis an den Stadtrand zu fahren, wo die Häuser klein und die Gesichter der Leute immer die gleichen sind. Vielleicht war die Haltestelle verlegt worden, und ich suchte hier vergeblich. Es fuhr auch keine Bahn vorbei, als wären es tote Gleise.

      In der Handtasche hatte ich noch zwei Münzen für die Fahrkarte, über mehr Geld in der Landeswährung verfügte ich nicht, meinen Koffer hatte ich am Bahnhof deponiert. Ich hoffte, die Haltestelle zu finden, hoffte auf eine späte Straßenbahn, die mich an den Stadtrand bringt, wo man auf mich wartete. Meine Handtasche mit den letzten Groschen fest umklammernd, wagte ich mich treppab auf den großen karierten Platz und versuchte durch die Menschenmenge hindurch auf die andere Seite zu gelangen, da ich dort die verschollene Haltestelle vermutete.

      Die Leute hatten sich hier versammelt, um auf einen Kometen zu warten, der in Radio und Fernsehen angekündigt worden war. Vielleicht auch in der Zeitung, doch die Leute hier hielten sich mehr an das, was sie mit ihren Ohren hörten, und wollten es nun auch mit den Augen sehen. An das gedruckte Wort glaubten sie schon lange nicht mehr.

      Ich hatte die Lokalzeitung dieser Stadt länger nicht mehr gelesen und seit einigen Tagen, seitdem ich unterwegs war, keinen Sender mehr gehört, so dass ich nicht im Bilde war über das, was in der Welt und im Weltall geschah. Die Menschen standen jetzt nicht mehr raunend umher, eine unruhige Bewegung, die in irgendeiner Ecke ihren Anfang genommen haben musste, vervielfältigte sich und überschwemmte den großen Platz. Grüppchen und einzelne verschoben


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