Resilienz. Maike Rönnau-Böse
Resilienz liegt also nur dann vor, wenn eine Hochrisikosituation besser bewältigt wird als erwartet bzw. erwartbar ist (vgl. aktuelle Diskussionen in Opp / Fingerle 2008; Zander 2011). In einer weiter gefassten Definition wird Resilienz als eine Kompetenz verstanden, die sich aus verschiedenen Einzelfähigkeiten zusammensetzt (vgl. z. B. Fröhlich-Gildhoff / Rönnau-Böse 2012). Diese Kompetenzen sind nicht nur relevant für Krisensituationen, sondern auch notwendig, um z. B. Entwicklungsaufgaben und weniger kritische Alltagssituationen zu bewältigen. Die Einzelkompetenzen entwickeln sich in verschiedensten Situationen, werden unter Belastung aktiviert und manifestieren sich dann als Resilienz.
Es geht bei Resilienz somit in erster Linie nicht nur um die Feststellung von Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung und die „Abwesenheit psychischer Störungen“, sondern vor allem um den „Erwerb bzw. Erhalt altersangemessener Fähigkeiten und Kompetenzen“ und die „erfolgreiche Bewältigung von altersspezifischen Entwicklungsaufgaben“ (Wustmann 2016, 20). Entwicklungsaufgaben bestehen i. S. von Havighurst (1948) in jeder Altersstufe; in der frühen Kindheit sind dies z. B. die Sprachentwicklung, die Entwicklung von Autonomie oder auch der Übergang von der Familie in den Kindergarten. Bewältigt ein Kind diese Anforderungen erfolgreich, entwickeln sich Kompetenzen und Fähigkeiten und das Kind lernt, dass Veränderungen und Stresssituationen nicht bedrohlich, sondern bewältigbare Herausforderungen sind (Wustmann 2016, 20). Was unter erfolgreicher Bewältigung verstanden wird und was eine altersentsprechende Entwicklung beinhaltet, kann wiederum sehr unterschiedlich sein und, wie anfangs beschrieben, können auch hierfür externale (z. B. Schulleistungen) und internale Kriterien (z. B. das subjektive Befinden) herangezogen werden. Eine differenzierte Operationalisierung dieser Konstrukte steht noch aus und wird derzeit kontrovers diskutiert (Bengel et al. 2009, Holtmann / Schmidt 2004, Alvord / Grados 2005, Fingerle / Grumm 2012).
Die Resilienzforschung ist ressourcen- und nicht defizitorientiert ausgerichtet. Sie geht davon aus, dass Menschen aktive Bewältiger und Mitgestalter ihres Lebens sind und durch soziale Unterstützung und Hilfestellungen die Chance haben, mit den gegebenen Situationen erfolgreich umzugehen und ihnen nicht nur hilflos ausgeliefert zu sein.
Es geht dabei nicht darum, die Schwierigkeiten und Probleme zu ignorieren, sondern die Kompetenzen und → Ressourcen eines Kindes zu nutzen, damit es besser mit Risikosituationen umzugehen lernt. Dieser Ansatz beinhaltet die große Chance für die Pädagogik, insbesondere der ersten Lebensjahre und der Frühförderung, aber auch für die klinische Psychologie und Kinderpsychotherapie, ressourcen- und bewältigungsorientierte Kompetenzen bei Kindern frühzeitig und gezielt zu unterstützen und die Ergebnisse der Resilienzforschung für sich zu nutzen.
Darüber hinaus kann ein weiterer Aspekt diskutiert werden, der in der Literatur bisher wenig Beachtung findet: Die starke Fokussierung auf Stärken, Schutzfaktoren und Ressourcen kann den Eindruck erwecken, dass negative Gefühle, wie z. B. Angst, Trauer, Schmerz, aber auch Dysfunktionalität, weniger Berechtigung erhalten. Die mit dem Resilienzkonzept verknüpfte Aufforderung, die Ressourcen und Kompetenzen von Menschen wahrzunehmen, führt in den letzten Jahren vor allem in der Praxis wieder zu einer Verengung des Konzepts, d. h. Schwierigkeiten und negative Gefühle dürfen „weniger sein“. Wer nicht gleich mitschwimmt auf der positiven Welle und sich seine positiven Seiten und Ressourcen vor Augen führt, wird dazu gedrängt. Es wird dabei vergessen, dass auch eine resiliente Entwicklung sehr anstrengend ist, mit Schmerz und Trauer verbunden sein kann und viel Kraft benötigt. Die Bewältigung der verschiedenen Belastungen mag aufgrund verschiedenster Schutzfaktoren gelingen – der Weg dahin wird dadurch aber nicht zwangsläufig einfacher für die Betroffenen.
Das Konstrukt Resilienz ist ein dynamischer oder kompensatorischer Prozess positiver Anpassung bei ungünstigen Entwicklungsbedingungen und dem Auftreten von Belastungsfaktoren. Charakteristisch für Resilienz sind außerdem ihre variable Größe, das situationspezifische Auftreten und die damit verbundene Multidimensionalität.
Einen sehr gut verständlichen und umfassenden Überblick über den Stand der Forschung zu Resilienz gibt Wustmann (2016): Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern.
Eine detaillierte Betrachtung von Resilienz nehmen Opp / Fingerle (2008) vor: Was Kinder stärkt. Neben Grundlagen der Resilienzforschung und kritischer Reflexion des Begriffs, werden themenspezifische Zusammenhänge mit sozialen Arbeitsfeldern verknüpft.
Resilienzforschung und relevante Studien
Die Resilienzforschung entwickelte sich aus der → Entwicklungspsychopathologie, die vor allem in den 1970er Jahren die Risikoeinflüsse auf die Entwicklung von Kindern untersuchte. Dabei wurde der Blick mehr und mehr auf die Kinder gerichtet, die sich trotz schwierigster Bedingungen sehr gut entwickelten, d. h. Beziehungen eingehen konnten, eine optimistische Lebenseinstellung hatten, in der Schule gut zurecht kamen usw. Eine systematische Resilienzforschung begann dann Ende der 1970er Jahre in Großbritannien und Nordamerika (Rutter 1979, Garmezy 1984, Werner / Smith 1982) und wurde Ende der 1980er Jahre auch in Deutschland zu einem festen Bestandteil der Forschung.
Beeinflusst wurde der → Perspektiven- oder sogar Paradigmenwechsel – also der Blickwechsel von der Pathologie auf die Resilienz – von den Studien des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, der den Begriff der → Salutogenese prägte. Wie die Resilienzforschung legt das Salutogenesekonzept den Schwerpunkt auf die → Ressourcen und Schutzfaktoren von Menschen und fragt danach, was Menschen hilft, schwierige Bedingungen erfolgreich zu bewältigen. In beiden Konzepten wird davon ausgegangen, dass der Mensch Ressourcen zur Verfügung hat, die ihm helfen mit diesen Bedingungen umzugehen. Anstatt Risiken und krankmachende Einflüsse zu bekämpfen, sollen Ressourcen gestärkt werden, um den Menschen gegen Risiken widerstandsfähig zu machen. Dabei wird in der Resilienzforschung das von Antonovsky (1997) benannte Gefühl der → Kohärenz als eine personelle Ressource gesehen. Das Kohärenzgefühl setzt sich aus drei wesentlichen Komponenten zusammen: (1) dem Gefühl der Verstehbarkeit von Situationen und Ereignissen („sense of comprehensibility), (2) dem Gefühl der Handhabbarkeit („sense of managability“), also dem Gefühl, schwierige Situationen meistern zu können und ihnen nicht ausgeliefert zu sein, und (3) dem Gefühl der Sinnhaftigkeit („sense of meaningfulness“) von erlebten Situationen. Somit sind die Kernannahmen und Fragestellungen beider Konzepte ähnlich, es werden aber verschiedene Akzente gesetzt. So legt die Salutogenese den Schwerpunkt auf Schutzfaktoren zur Erhaltung der Gesundheit, die Resilienzforschung konzentriert sich mehr auf den Prozess der positiven Anpassung und Bewältigung. Der Resilienzansatz ist darüber hinaus stärker methodenorientiert (Bengel et al. 2001). Insgesamt lässt sich der Resilienzansatz in das Salutogenesemodell integrieren, und er kann es sinnvoll ergänzen.
Bengel et al. (2009) unterteilen die Entwicklung der Resilienzforschung nach einem Vorschlag von O’Dougherty Wright und Masten (2006) in drei Phasen:
▪„1. Phase: Identifikation der Schlüsselkonzepte und allgemeiner Schutzfaktoren“ (Empirische Grundlage) – Hier steht die Definition der Dimension von Resilienz im Mittelpunkt, d. h. die Frage, welche Kriterien eine Rolle spielen sowie die Identifikation von Schutzfaktoren allgemein.
▪„2. Phase: Kontextfaktoren und Prozessorientierung“ (Komplexität des Konstrukts) – Prozesse und Wirkmechanismen werden untersucht.
▪„3. Phase: Maßnahmen zur Förderung von Resilienz“ (Prävention und Intervention) – resilienzförderliche Maßnahmen werden entwickelt (Bengel et al. 2009, 15 – 17).
Diese Phasen überlappen sich zeitlich, laufen teilweise nebeneinander her und dauern weiterhin an. Da aber unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt wurden, ist eine Aufteilung in die drei Phasen eine sinnvolle Strukturierung.
Inzwischen wird auch von einer vierten Phase der Resilienzforschung gesprochen (Bengel/Lyssenko 2012). Im Mittelpunkt steht hier die Entwicklung von Mehrebenenmodellen in der Erforschung der Einflussfaktoren. Dabei spielen sowohl psychosoziale Aspekte als auch neurobiologische und Gen-Umwelt-Interaktionen eine Rolle. Diese Mehrperspektivität erfordert eine hohe Interdisziplinarität der