Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink
Charakterdarstellers in Kaftan und hohen Stiefeln über sich ergehen ließ, der, eine kleine Glasspritze, wie sie in
Bandagistenläden feil sind – für Ohrenleidende – in der Hand hielt und dazu, nach jeder Strophe einen grotesken
"Deigestanz" einschaltend, durch die Nase sang:
"Jach ordiniier
vün draj bis vier
und wohn' im zweiten Stock;
als Spezialist
berihmt sehr ist
der Doktor Feiglstock."
Hauberrisser sah sich nach einem noch freien Platz um; überall war die Menge – anscheinend zumeist Einheimische
bürgerlichen Mittelstandes, – dicht gedrägnt; nur an einem Tisch in der Mitte lehnten auffallenderweise noch ein paar
leere Stühle. Drei wohlbeleibte, gereifte Frauen und eine alte, streng blickende mit Adlernase und Hornbrille saßen,
emsig Strümpfe strickend, um eine mit buntwollener Gockelhaube bedeckte Kaffeekanne herum wie in einer Insel
häuslichen Friedens.
Ein freundliches Nicken der vier Damen gestattete ihm, sich zu setzen.
Im ersten Augenblick hatte er geglaubt, es sei eine Mutter mit ihren verwitweten Töchtern, aber, wie er jetzt sah,
konnten sie kaum verwandt sein. Dem Typus nach waren die drei jüngern, wenn auch einander ganz unähnlich – alle
blond, fett, etwa fünfundvierzig Jahre alt und von kuhartiger Behäbigkeit –, Holländerinnen, währen die weißhaarige
Matrone offenbar aus dem Süden stammte.
Schmunzelnd brachte ihm der Kellner das Beefsteak; ringsum die Leute an den Tischen grinsten, sahen herüber,
tauschten halblaute Bemerkungen, was hatte das alles zu bedeuten? Hauberrisser konnte nicht klug daraus werden; er
musterte heimlich die vier Frauen, nein, unmöglich, – sie waren die Spießbürgerlichkeit selbst.
Schon das gesetzte Alter verbürgte ihre Ehrbarkeit.
Oben auf dem Podium hatte soeben ein sehniger Rotbart mit sternenbannergeschmückten Hosen, an der grün-gelb
karierten Weste eine Weckeruhr und in der Tasche eine erwürgte Ente – seinem Kollegen, dem greisen Frosch, unter
den gellenden Klängen des Yankeedoodle den Schädel gespalten, und ein Rotterdamer Lumpensammlerehepaar sang
"met Piano Begeleidingen" das alte schwermütige Lied von der gestorbenen "Zandstraat":
"Zeg Rooie, war zal jij verschrikken
Als jij's thuis gevaren ben:
Dan zal ze zien en ondervinden
Dat jij de Polder nie meer ken.
De heele keet wordt afgebroken,
De heeren krijgen nou d'r zin.
De meides motten uit d'r zaakies
De Burgemeester trekt erin."
Ergriffen, als handle es sich um einen protestantischen Choral, – die Augen der drei fetten Holländerinnen glänzten
tränenfeucht, – brummte das Publikum mit:
"Ze gaan de Zandstraat netjes maken
't Wordt 'n kermenadebuurt
De huisies en de stille knippies
Die zijn al an de Raad verhuurt.
Bij Nielsen ken je nie meer dansen
Bij Charley zijn geen meisies meer.
En mocke Bet draag al'n hoedje
Die wordt nu zuster in den Heer."
Grell, wie die Arabesken in einem Kaleidoskop, lösten die Nummern des Programms einander ab, ohne Pause,
kunterbunt zusammengestellt: pudellockige englische Babygirls von schreckenerregender Unschuld, Apachen mit
rotwollenen Shawls, eine syrische Bauchtänzerin, gefüllt mit wild wogenden Eingeweiden, Glockenimitatoren und
bayerische melodisch rülpsende Schnadahüpfler.
Eine fast narkotische Nervenberuhigung ging von diesem Mischmasch von Sinnlosigkeiten aus, als hafte ihnen etwas
an von der seltsamen Zauberkraft, die einem kindischen Spielzeug innewohnt und oft ein besseres Heilmittel ist für ein
vom Leben zermürbtes Herz als das erhabenste Kunstwerk.
Hauberrisser verging die Zeit, er merkte es kaum, und als eine Schlußapothese die Vorstellung krönte und die
Artistentruppe mit entfalteten Bannern aller Völker der Erde – vermutlich ein Symbol für den glücklich
wiederhergestellten Weltfrieden – abzog, voran ein kaketanzender Neger mit dem üblichen:
Oh Susy Anna
Oh don't cry for me
I'm goin' to Loosiana
My true love for to see – – –
konnte er sich nicht genug wundern, daß er das Verschwinden der zahlreichen Zuschauer nicht gemerkt hatte; der
Saal war beinahe leer.
Auch seine vier Tischnachbarinnen hatten sich lautlos empfohlen.
Statt dessen lag als zartes Angebinde auf seinem Weinglas eine rosa Visitenkarte mit zwei schnäbelnden Tauben und
der Aufschrift:
MADAME GITEL SCHLAMP
die ganze Nacht geöffnet
Waterloo Plein Nr. 21
15 Damen
Im eigenen Palais
Also doch! – – – –
"Wünscht der Herr ein verlängertes Eintrittsbillet?" fragte der Kellner leise, vertauschte flink das gelbe Tischtuch mit
einer weißen Damastdecke, stellte einen Strauß Tulpen in die Mitte und legte silberne Bestecke auf.
Ein ungeheurer Ventilator fing an zu surren und saugte die plebejische Luft empor.
Livrierte Diener zerstäubten Parfüms, ein roter Sammetläufer rollte seine Zunge auf über dem Boden bis über das
Podium, Klubsessel aus grauem Leder wurden hereingeschoben.
Man hörte das Vorfahren von Wagen und Automobilen auf der Straße.
Damen in Abendtoiletten von ausgesuchter Eleganz, Herren im Frack strömten herein: dieselbe internationale,
scheinbar feinste Gesellschaft, die Hauberrisser abends sich in den Zirkus hatte drängen sehen.
In wenigen Minuten waren die Räume voll bis zum letzten Platz.
Leises Klirren von Lorgnonketten, halblautes Lachen, Knistern seidner Röcke, Duft von Damenhandschuhen und
Tuberosen, blitzende Perlenrivièren und Brillanttropfen, Zischen von Champagnerflaschen, das spröde Rascheln der
Eisstücke in den silbernen Kühlern, wütendes Kläffen eines Schoßhündchens, weiße, diskret gepuderte
Frauenschultern, Schaumwellen von Spitzen, süßlich scharfer Geruch von kaukasischen Zigaretten; – das Bild, das der
Saal soeben noch geboten, war nicht mehr zu erkennen.
Wieder saßen an Hauberrissers Tisch vier Damen, – eine ältere mit goldner Lorgnette und drei jüngere, – eine
schöner als die andere: Russinnen mit schmalen, nervösen Händen, blondem Haar und dunklen Augen, die niemals
zwinkerten, den Blicken der Herren nicht auswichen und sie dennoch nicht zu sehen schienen.
Ein junger Engländer, dessen Frack von weitem den ersten Schneider verriet,