Mit schwarzen Flügeln. Daimon Legion
hielten die Leute ihn für seltsam. Die barmherzigen Schwestern mochten ihn aus irgendeinem Grund nicht leiden und den anderen Waisen war er auch nicht geheuer. Angeblich strahlte er etwas aus, das den Menschen Angst machte. Was die Menschen wütend machte. Dieses Etwas machte ihn unbequem für die Welt. Und dieses Etwas musste es auch gewesen sein, das seine Mutter dazu veranlasst hatte, ihn als Baby wegzugeben. Nie hatte er je wieder was von ihr gehört. Von seinem unbekannten Vater erst recht kein Wort.
„Ist blöd, wenn einen niemand will.“
Damit musste er halt lernen zu leben. Egal, wie schwer es fiel.
Draußen wurde der Nachthimmel von einem Feuerwerk erhellt. Knallend explodierten die Raketen und in vielen sprühenden Farben flogen die Funken. Dabei war es erst gegen neun. Die Menschen der Stadt waren vorfreudig und zündelten, sobald es dunkel wurde.
Silvester kümmerte ihn nicht. Das neue Jahr würde es für ihn nicht besser machen. In der Schule würde es weiterhin Probleme mit den Leitern und Kameraden geben und seine Zieheltern würden nicht plötzlich mit aller Liebe über ihn herfallen.
Es war ein Fest für Erwachsene. Damit sie sich stark betrinken und etwas in die Luft jagen konnten, ohne dafür belangt zu werden.
Seine Lehrerin hatte gesagt, der Ursprung der Silvesterknallerei liege darin, dass man die bösen Geister des alten Jahres vertreiben wollte. Auch sollte in diesen sogenannten „Rauchnächten“ die „Wilde Jagd“ umgehen. Eine tobende Horde von heidnischen Geistern, die Unvorsichtige mitzogen. Von ihren düsteren Gespenstergeschichten hatte die ganze Klasse gezittert.
Nur ihm jagte sie keine Angst ein.
So wenig, wie er an einen barmherzigen Gott glaubte, gab er etwas auf solche Märchen – weder zu Silvester noch zu anderen Jahreszeiten. Zu Halloween enttäuschten ihn die Erwachsenen mit billigen Kostümen von Vampiren und Werwölfen und kein einziger Zombie taumelte über den Friedhof. Zu Weihnachten glaubten die Leute, ein falscher Bart machte sie zum Weihnachtsmann und dass Kinder nur Geschenke bekamen, wenn sie denn artig geblieben waren. Den Sinn beim Osterhasen oder der Zahnfee suchte er bis heute vergeblich.
Solche Geschichten sagten ihm bloß, dass gute Kinder, die sich an die Regeln hielten, belohnt, und die, welche sie brachen, bestraft wurden. Sie waren reine Erziehungsmaßnahmen.
Diese „Wilde Jagd“ würde eben nur jene holen, die sich des Nachts noch draußen herumtrieben. Es war ihm so klar gewesen, seine Lehrerin hätte es gar nicht erst betonen müssen.
Elfen, Feen, Kobolde und Dämonen – wenn er jetzt auf Gott und Teufel fluchen würde, wäre keiner der beiden zur Stelle, um ihn dafür zu maßregeln. Es gab keinen Schwarzen Mann im Wandschrank und keinen blödelnden Gruselclown in den Kanalschächten.
Eigentlich schade. Er hätte sie sonst nämlich zu gern gesucht und herausgefordert. Mit den Monstern gekämpft, ein Abenteuer erlebt, Gefahren überwunden und Verbündete gefunden, Freunde -
Doch das war alles bloß Fantasie.
In dieser grauen Realität da draußen gab es nichts Dergleichen.
Wenn er durch den Spiegel treten könnte, wäre es dann anders?
„Wenn ich aus dem Fenster springe, was passiert dann?“, grinste er sein Ich an.
Zum Glück hatten Patrick und Ines das nicht gehört.
Die hätten ihn wieder nur zu einem Arzt geschickt, mit dem er reden musste und der ihm kluge Sachen sagte, wie: „Deine Probleme produzierst du selbst“, oder: „Deine Eltern haben viel Mühe mit dir, du solltest lernen, sie zu achten“, und so weiter ... Das Gefasel kannte er zur Genüge.
Er sah hinunter auf die Straße vor dem Haus. Erwachsene und Kinder gingen dort entlang, sie zündeten kleine Fontänen an und schmissen mit Knallerbsen.
Sollte er runtergehen? Sich unter die Menschen mischen?
Erneut schaute er in die Stille der Wohnung. Hier würde er nichts verpassen. Hier leistete ihm bloß die Einsamkeit Gesellschaft, aber das Leben war auf der Straße. Es konnte nichts schaden, ein paar Runden zu gehen, oder?
„Okay“, sagte er und drehte sich vom Fenster weg, verließ sein Zimmer und betrat den langen Flur, um dort Schal, Schuhe, Mütze und Winterjacke anzuziehen. Er ging jedes Zimmer ab, um zu prüfen, dass er nichts hatte brennen lassen oder sonst eine Quelle der Gefahr bestand. Nicht, dass etwas passierte. Patrick würde es ihm nicht noch einmal verzeihen.
Gut, alles war in Ordnung.
Er schloss die Wohnungstür ab und kontrollierte es doppelt. Wäre nicht das erste Mal, dass er das Zuschließen vergessen hätte. Manchmal bekam er einfach seine Gedanken nicht zusammen, gerade wenn es um solche Kleinigkeiten ging. Und seine Zieheltern legten viel Wert auf diese.
Nach drei Stockwerken trat er aus der Haustür auf den geräumten Gehweg.
In der ersten Straße nach der Hausecke jagten ein paar Jugendliche Raketen in die Luft. Mit ihren Zigaretten zündeten sie die Schnur an und hielten beim Abfeuern den Stock in Händen. Sie lachten und tranken aus kleinen Schnapsflaschen billigen Alkohol.
Patrick würde ein solches Verhalten nicht tolerieren. Er hatte es ihm bereits angedroht. Sollte er sein Verhalten nicht ändern und weiter rebellieren, und sich als untragbar für sie beide herausstellen, wäre sein nächster Weg der in eine Besserungsanstalt.
... dann wären sie ihn los.
Einer der Kerle schmiss einen Knallfrosch nach ihm und er sprang schnell zur Seite.
Die Bande lachte, während der Böller gedämpft im Schnee verpuffte.
Er sollte weitergehen. Sie spürten ja das Etwas an ihm. Besser, er ließ es nicht zu noch mehr Ärger kommen.
In der zweiten Straße spielten Kleinkinder mit Wunderkerzen. Ihre Eltern zeigten ihnen, wie sie mit dem Feuerschein glühende Linien ziehen konnten. Die Kinder freuten sich. Sagten, dass sie ihre Eltern liebten.
Er schaute nicht länger zu.
Ines würde schimpfen. Es sei verantwortungslos, so kleine Kinder mit Feuer spielen zu lassen.
Die dritte Straße war menschenleer.
In der vierten Straße gab es eine kleine Gaststube, aus der fröhliche Stimmen grölten. Erwachsene saßen bei Bier und Zigaretten am Tresen, spielten mit Karten und erzählten derbe Witze. Man jubelte, klatschte, hörte Musik und bestellte die nächste Runde Likör.
Patrick mochte solche Leute nicht. Für ihn waren das Verlierer und er sollte nicht so enden. Kein Alkohol und keine Zigaretten. Keine zwielichtige Gesellschaft.
Er sollte Arzt oder Anwalt werden, Kaufmann auf dem Großmarkt, Aktienhändler. Irgendwas mit viel Geld und Ansehen. So wie sein „Vater“. Wenn er schon einen „Sohn“ hatte, sollte dieser auch etwas darstellen.
Seufzend verdrehte er die braunen Augen.
Vor der Kneipe standen zwei Männer und unterhielten sich abseits des Lärms.
Als er an ihnen vorbeiging, sprach der eine mit der Bierwampe ihn direkt an: „Hey, Kleiner!
Junge, es ist doch schon spät, du solltest hier nicht rumgeistern! Ist denn keiner bei dir? Geh mal lieber schnell nach Hause.“
Er zuckte ruhig die Schultern. „Bin schon auf dem Weg.“
„Dann hop-hop!“, scherzte der zweite Mann. „Pass auf, sonst erwischt dich der Eisengrind.“
„Wer?“
„Der Eisengrind, Kleiner!“, sprach erneut der erste und verstellte seine tiefe Stimme, was sie wohl gruseliger machen sollte, als er fortfuhr: „Ein böser Dämon. Der jagt in so einer kalten Nacht Kinder, die draußen allein herumspazieren und frisst sie auf. Schon viele sind verschwunden und man fand keinen Knochen mehr von ihnen.“
Sollte ihn diese Geschichte etwa erschrecken?
„Okay“, segnete