Mit schwarzen Flügeln. Daimon Legion
Leute hetzten an ihm vorbei, telefonierten, schwatzten, beachteten ihn nicht. Beinahe wäre sogar jemand über den Greis gestolpert.
Die Nordstadt war kalt.
Zach blieb mit hängendem Kopf stehen und seufzte. Er zündete sich eine Zigarette an, kramte nach den letzten bisschen Geld in seinen Taschen, das er besaß, ging zu dem Alten und warf es in seinen Pappbecher.
Mit trüben Augen schaute der Mann auf und dankte ihm aufrichtig mit einem zahnlosen Lächeln.
Ein wenig Buße für die Schwachen, das hatte sich Zach geschworen. Weil er nicht böse sein konnte. Nicht gegenüber Menschen, die wehrlos waren.
Seine Laufbahn als Krimineller begann nach seiner Flucht. Schließlich hatte er essen müssen und dafür brauchte er Geld. Er stahl ein Taschenmesser und plante, damit die Schwachen zu erpressen. Sein erstes Opfer sollte eine dürre Großmutter sein. Doch ihr Zittern und Flehen hatte ihn weich gemacht und er ließ es bleiben. Dann wollte er Obdachlose wie diesen Alten berauben – und brachte es nicht über sein Herz. Nein, er beschützte sogar die Armen von anderen, die Ähnliches vorhatten.
Den Mächtigen konnte er etwas antun, aber nicht den Machtlosen. Das war sein Stil.
Bis heute war er der Killer mit Stil. Der mit der scharfen Klinge.
Zach the Knife.
Die Kleinkriminellen im Hafen fürchteten seinen Namen und auch viele große Bosse hatten vor ihm Respekt. Er galt in seinem Job als verlässlich. Gewissenhaft. Fair. Ehrlich. Seltene Charakterzüge im Untergrund.
Ha. Dabei war es mehr als töricht, in dieser Stadt einen Namen – geschweige denn einen Ruf! – zu besitzen. Namen konnte man folgen und sie lockte Feinde an. Zu dumm, dass die Menschen ihm keine Angst machten.
Jetzt hatte er zwar kein Geld mehr, aber erwischte noch seine Bahn, die ihn näher in Richtung Hafen führte. Er fuhr ohnehin immer schwarz. Sich auf einen freien Platz setzend, strubbelte er das Eis aus seinen nussbraunen Haarsträhnen und rieb die stoppelkurzen Seiten warm, während die Bahn unter kreischenden Schienen losfuhr.
Häuser und Menschen zogen an ihm vorbei. Sein Gesicht im Fensterglas blickte ihn genauso leer an wie früher. Aus dem stumpfen Kind war ein ebenso stumpfer Mann geworden. Freude und Liebe hatten seinen kleinen Geist nicht bereichern können – wieso sollte es bei dem großen anders sein?
Der Winter kam und ging.
Essen, schlafen, wachsen, vergehen.
Immer der gleiche Albtraum, Tag für Tag. Das nannte sich sein Leben.
Warum hatten die Verfluchten nur so ein Glück?
3
Das Läuten der Bojen empfing Zach, als er der Straßenbahn entstieg.
Die Tram hielt im Außenbezirk der Nordstadt, nah am Meer, wo die sehr einfachen Bürger und Fabrikarbeiter lebten – wenn überhaupt, denn der Großteil der baufälligen Häuser stand leer.
So nah am Kanal liegend, roch die Luft salzig und nach faulem Fisch, vermischt mit dem Ruß- und Gummigestank der laufenden Industrien, deren schwarze Wolken in den verhangenen Himmel aufstiegen, nur um als dreckiger Schnee wieder niederzuschlagen.
Das starke Duftgemisch, welches ungewohnte Nasen umhauen konnte, registrierte Zach schon gar nicht mehr, während er den Weg über die Eisenbrücke einschlug.
Drei Stück dieser Stahlkonstruktionen verbanden das Hafengebiet mit dem Festland.
Das Viertel selbst war eine künstliche Insel, teilweise schwimmend auf Pontons oder stehend auf Säulen. Wer am Pflaster kratzte, fand keinen Krümel Erde.
Für die großen Frachtschiffe und Öltanker waren fünf Anlegestellen eingerichtet, komplett mit der dazugehörigen Werft.
Der Konkurrenzkampf war hart bei den raubeinigen Schiffsbauern. Wer anderen die Kundschaft stahl oder Aufträge fälschte, riskierte sein Leben. Ganz extrem wurden die Straßenschlachten geführt, bei denen man besser nicht in die Fronten geriet.
Für das Wohl der Bewohner wurde überraschend anständig gesorgt. In heruntergekommenen Lagerhallen konnte jeder frische Lebensmittel erstehen, wenn er das Geld hatte, und bei den Gangs kam man durch Beziehungen auch an illegale Waren ran. Krämer verkauften billigen Plunder von kurzer Gebrauchsdauer und wer wollte, konnte die Nächte in den unzähligen Kneipen verbringen.
Sogar zwei Ärzte trauten sich, hier ihre Geschäfte zu führen. Der eine war ein rechter Pfuscher, dem man besser bloß sein Haustier oder kleinere Wunden anvertraute. Der andere hatte schon mehr Potenzial, stand jedoch mit einigen Banden in Kontakt, die verlangten, dass er ihre Feinde abwies.
Man konnte an diesem Ort leben, wenn man keine hohen Ansprüche stellte und sich gut behauptete gegenüber denen, die meinten, das Sagen zu haben.
Zach schaffte dies bereits seit neunzehn Jahren.
Es hatte viel Ärger am Anfang gegeben und oft hatte er kämpfen müssen. Die Narbe an seinem Kiefer sprach von dieser Zeit. Schlussendlich lebte er sich ein, lernte die richtigen Leute kennen, und heute kam es nur noch selten zu schweren Auseinandersetzungen.
Seine festen Stiefel berührten den fast heimischen Boden.
Zu dieser frühen Tageszeit wirkten die Wege wie ausgestorben.
Krähen hockten zu Scharen auf den mit Schnee beladenen Dächern und krächzten, dass ihr Ruf durch die engen Gassen schallte. Sie hielten Ausschau nach Fleisch, das unter Umständen im Rinnstein verrotten könnte. Im Normalfall hielten diese geflügelten Todesboten sich auch nur an das Restbüfett und warteten geduldig auf ihre Chance.
Allerdings war Zach noch der Winter von vor drei Jahren im Gedächtnis geblieben. Damals war es dermaßen bitterkalt gewesen, dass die Vögel alles attackierten, was ihnen unter die Schnäbel geriet – egal, ob tot oder lebendig. Ein Bekannter hatte so sein Auge verloren.
Kälte und Dunkelheit – eigentlich hätte es Zach an keinen ungünstigeren Ort verschlagen können.
Warum war er nicht in den Süden, in die Wüste gegangen? Wieso nicht an einen Platz, an dem die Sonne nie unterging?
Vielleicht, um sich selbst etwas zu beweisen. Dass er erwachsen und kein Kind mehr war, das zur leichten Beute werden konnte. Dass er den Eisengrind nicht mehr fürchtete, der nach ihm jagte.
Dieser alte Spuk folgte ihm seither wie ein Schatten. Patrick und Ines war nie klar gewesen, wieso er sich plötzlich vor Hunden aller Art fürchtete oder im Winter nie mehr nach draußen ging, sobald es dunkel wurde. Sie schoben es auf seine unzähligen Macken und stempelten seine kindliche Angst als irrational ab. Sätze wie: „Stell dich nicht so an!“ und „Hab dich nicht so!“ waren für sie schnell gesagt.
Zach war groß geworden und hatte viel Schlechtes von den Menschen erfahren, was andere in Schrecken versetzte, ihn aber eher zum Kampf anspornte. Probleme musste er in Kauf nehmen und sich durch alle Gefahren der Welt durchbeißen. Doch das störte ihn nicht.
Es war nur dieser eine Dämon, der ihm noch zeigte, wie sich Angst anfühlte.
Und dieser Dämon war auch der Grund, weswegen selbst er, der keinem Hokuspokus oder Aberglauben Beachtung schenkte, die Rauchnächte so gut wie möglich mied. Denn der Eisengrind war Realität, wie er am besten wusste. Sobald die Sonne unterging, blieb Zach lieber innerhalb von sicheren vier Wänden.
Heute Abend ginge es definitiv in eine Bar, weil er ja gutherzig und deshalb restlos pleite war. Leider waren zum jetzigen Zeitpunkt alle Kneipen des Hafens dicht, da blieb ihm nur das traute Heim als Zufluchtsort vor der Kälte.
Gedankenverloren, aber immer noch mit einem offenen Ohr und Auge, durchquerte er die Straßen, auf denen kaum ein Auto Platz hatte, vorbei an vollen Müllcontainern und abbruchreifen Häusern.
Aus einer gläsernen Ladentür heraus grüßte ihn Lao Jing, ein Kleinhändler für Kleidung, Schuhe