Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab
denselben ein. Hier nahm er den Vorsitz und befragte die Häupter des Volkes der Reihe nach über
die Gewalttat des Paris. Die vornehmsten Männer Trojas erklärten einer nach dem andern, daß sie
die Tat für einen fluchwürdigen Frevel hielten; nur Antimachos, ein kriegslustiger, aber tückischer
Mann, verteidigte den Raub der griechischen Fürstin. Er war von Paris mit reichlichen Gaben
bestochen worden, wo es immer Gelegenheit gäbe, sich seiner anzunehmen und die Auslieferung
Helenas zu verhindern. Auch diesmal arbeitete er für diesen Zweck, und hinter dem Rücken der
Helden erteilte er den ruchlosen Rat, die Gesandten der Griechen, drei ihrer tapfersten und klügsten
Helden, umzubringen. Als aber die Trojaner diesen Vorschlag mit Abscheu von sich wiesen, riet er, sie
wenigstens so lange zu behalten, bis sie den gefangenen Polydoros ohne Lösegeld und Tausch dem
Priamos ausgeliefert hätten. Auch dieser Rat wurde als treulos verworfen, und da Antimachos nicht
aufhörte, selbst öffentlich in der Versammlung die Helden zu schmähen, so wurde er von seinen
Mitbürgern, welche den Griechen ihre Mißbilligung seines Betragens und seiner Grundsätze
beweisen wollten, mit Schimpf aus der Versammlung gestoßen.
Erbittert begab sich Antimachos auf die Burg und unterrichtete den König von der Ankunft der
griechischen Gesandtschaft. Nun erhub sich im Rate des Königes und seiner Söhne selbst eine lange,
zwiespältige Beratung, zu welcher auch ein Ältester, der edle Panthoos, der das volle Vertrauen des
alten Königes genoß, gezogen wurde. Dieser wandte sich an den tapfersten, billigsten und
tugendhaftesten aller Söhne des Königes, an Hektor, mit der flehentlichen Bitte, dem Rat aller
besseren Trojaner nachzugeben und die unheilvolle Urheberin des Krieges auszuliefern. »Hat doch«,
sprach er, »Paris so viele Jahre lang Zeit gehabt, sich seines ungerechten Raubes zu erfreuen und
seine Lust zu büßen! Jetzt sind alle unsre verbündeten Städte zerstört, und ihr Untergang weissagt
uns unser eigenes Schicksal; dazu haben die Griechen deinen kleinen Bruder in ihrer Gewalt, und wir
wissen nicht, was aus ihm werden wird, wenn wir den Griechen Helena nicht ausliefern!«
Hektor wurde schamrot und bis zu Tränen betrübt, als er der Untat seines Bruders Paris gedachte.
Dennoch sprach er sich im Rate des Königes nicht für die Auslieferung der Fürstin aus. »Sie ist«,
antwortete er dem Panthoos, »einmal die Schutzflehende unsres Hauses. Als solche haben wir sie
aufgenommen, sonst hätten wir sie von der Schwelle des Königspalastes zurückweisen müssen. Statt
dies zu tun, haben wir ihr und dem Paris ein prächtiges Haus gebaut, und sie haben darin in
Herrlichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr alle habt dazu geschwiegen und habt doch
diesen Krieg kommen sehen! Warum sollen wir sie jetzt vertreiben?« »Ich habe nicht geschwiegen«,
erwiderte Panthoos, »mein Gewissen ist ruhig: ich habe euch die Prophezeiung meines Vaters
mitgeteilt und euch gewarnt; ich warne euch zum zweitenmal. Komme, was da will, ich werde die
Stadt und den König mit euch getreulich verteidigen helfen, auch wenn ihr meinen heilsamen Rat
nicht befolget!« Mit solchen Worten verließ er die Versammlung der Königssöhne.
In dieser wurde zuletzt auf Hektors Vorschlag beschlossen, zwar die Fürstin Helena nicht
auszuliefern, wohl aber Genugtuung und Ersatz für alles zu leisten, was mit ihr geraubt worden sei.
An ihrer Statt sollte dem Menelaos eine der Töchter des Königes Priamos selbst, die weise Kassandra
oder die in ihrer Jugendblüte heranreifende Polyxena mit königlicher Mitgift zur Gemahlin angeboten
werden. Als die griechischen Gesandten, vor den König und seine Söhne geführt, diesen Vorschlag
vernahmen, ergrimmte Menelaos und sprach: »Wahrhaftig, es ist mit mir weit gekommen, wenn ich,
so viele Jahre des Ehegemahls meiner Wahl beraubt, am Ende von den Feinden mir eine Gattin
auslesen lassen muß! Behaltet eure Barbarentöchter und gebt mir das Weib meiner Jugend zurück!«
Dagegen erhob sich der Eidam des Königes, der Gemahl Krëusas, der Held Äneas, und rief dem
Fürsten Menelaos, der die letzten Worte mit verächtlichem Hohnlachen gesprochen hatte, mit
rauher Stimme zu: »Du sollst weder das eine noch das andere erhalten, Elender, wenn es nach
meiner Abstimmung geht und nach der Meinung aller derjenigen, die den Paris lieben und es mit der
Ehre dieses alten Königshauses halten! Noch hat das Reich des Priamos seine Beschützer! Und würde
auch der Knabe Polydoros, der Sohn des Kebsweibes, ihm verlorengehen, so ist Priamos dadurch
nicht kinderlos geworden! Sollen die Griechen einen Freibrief von uns erhalten, Frauen zu rauben?
Genug der Worte! Wenn ihr euch nicht auf der Stelle mit eurer Flotte davonmacht, so sollet ihr den
Arm der Trojaner fühlen! Noch haben wir streitlustiger Jugend genug, und aus der Ferne kommen
uns von Tag zu Tag mächtigere Verbündete, wenn auch die Schwachen in der Nähe erlegen sind!«
Diese Rede des Äneas wurde von lautem Beifallsruf in der trojanischen Fürstenversammlung
begleitet und die Gesandten nur durch Hektor vor rohen Mißhandlungen geschützt. Voll heimlicher
Wut entfernten sie sich mit ihrem Gefangenen Polydoros, den der König Priamos nur aus der Ferne
erblickt hatte, und kehrten zu den Schiffen der Griechen zurück. Als sich hier die Nachricht von dem
verbreitete, was ihnen in Troja widerfahren war, von den Umtrieben des Antimachos, von dem
Übermute des Äneas und aller Priamossöhne außer Hektor, entstand ein Auflauf unter dem Heere,
und alles Volk schrie mit wilden Gebärden um Rache. Ohne lange die Fürsten zu fragen, wurde in
einer unordentlichen Kriegerversammlung der Beschluß gefaßt, den unglücklichen Knaben Polydoros
büßen zu lassen, was seine Brüder und sein Vater verschuldet. Und auf der Stelle schritten sie zur
Ausführung des Beschlossenen. Das arme Kind wurde auf Schußweite unter die Mauern Trojas
geführt, und als, durch den großen Heeresauflauf herbeigelockt, König Priamos selbst mit seinen
Söhnen auf den Mauern erschien, tönte bald ein kläglicher Weheruf von den Zinnen herab; denn mit
eigenen Augen mußten die Troer sehen, wie die Drohung des Odysseus an dem Knaben vollzogen
ward. Steine flogen von allen Seiten gegen sein bloßes Haupt und seinen aller Beschirmung baren
Leib, und unter unzähligen Würfen starb er eines kläglichen und grausamen Todes. Den entfleischten
Leichnam gestatteten die Griechenfürsten dem flehenden Vater zum ehrlichen Begräbnis
auszuliefern; die Diener des Königes erschienen, von dem Trojanerhelden Idaios begleitet, und luden
die Leiche des Kindes unter Tränen und Wehklagen auf den Trauerwagen, der sie dem trostlosen
Vater zuführen sollte.
Chryses, Apollo und der Zorn des Achill