Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav  Schwab


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eine Natter gesehen. Als ihn Hektor so in die Menge der Trojaner zurücktauchen sah, rief er ihm voll

       Unmut zu: »Bruder, du bist doch nur von Gestalt ein Held, in Wahrheit aber nichts als ein weibischer,

       schlauer Verführer. Wärest du lieber gestorben, ehe du um Helena gebuhlt! Siehst du nicht, wie die

       Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wagest, dem Manne standzuhalten, dem du die

       Gattin gestohlen hast? Du wärest wert zu erfahren, an welchem Manne du dich versündigt, und ich

       würde dich nicht bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälzest und der Staub dein

       zierliches Lockenhaar besudelte.« Paris antwortete ihm: »Hektor, dein Herz ist hart und dein Mut

       unwiderstehlich wie eine Axt aus Erz, mit der der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadelst

       mich nicht mit Unrecht; aber schilt mir nicht meine Schönheit, denn sie ist auch eine Gabe der

       Unsterblichen. Wenn du mich aber jetzt kämpfen sehen willst, so heiß Trojaner und Griechen ruhen;

       dann will ich um Helena und alle ihre Schätze mit dem Helden Menelaos vor allem Volke den

       Zweikampf wagen. Wer von uns beiden siegt, mag sie heimführen; ein Bund soll es bekräftigen; ihr

       bauet alsdann das trojanische Land in Frieden, und jene schiffen heim gen Argos.«

       Eine freudige Überraschung hatte sich Hektors bei diesen Worten seines Bruders bemächtigt; er trat

       vor die Schlachtordnung heraus in die Mitte und hemmte, den Speer hochhaltend, den Anlauf der

       trojanischen Haufen. Als die Griechen seiner ansichtig wurden, zielten sie in die Wette mit

       Wurfspießen, Pfeilen und Steinen nach ihm. Agamemnon aber rief laut nach den griechischen Reihen

       zurück: »Haltet ein, Argiver, werfet nicht; der helmumflatterte Hektor begehrt zu reden!« Die

       Griechen ließen ihre Hände sinken und verharrten in Schweigen ringsumher; und nun verkündete

       Hektor mit lauter Stimme den Völkern den Entschluß seines Bruders Paris. Seine Rede beantwortete

       ein tiefes Stillschweigen. Endlich nahm Menelaos vor den Heeren das Wort: »Hört mich an«, rief er,

       »mich, auf dessen Seele der allgemeine Kummer am schwersten lastet! Endlich, hoffe ich, werdet ihr,

       Argiver und Trojaner, nachdem ihr um des Streites willen, den Paris angefacht, so viel Schlimmes

       erduldet habt, versöhnt voneinander scheiden! Einer von uns zweien, welchen auch das Schicksal

       auserkoren hat, soll sterben; ihr andern aber sollt in Frieden scheiden. Laßt uns opfern und

       schwören, alsdann mag der Zweikampf beginnen!«

       Beide Heere wurden froh über diesen Worten; denn sie sehnten sich nach einem Ende des unseligen

       Kriegs. Auf beiden Seiten zogen die Wagenlenker den Rossen die Zügel an, die Helden sprangen von

       den Streitwagen, zogen die Rüstungen aus und legten sie, Feinde ganz nahe an Feinden, auf die Erde

       nieder. Hektor sandte eilig zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen und den König

       Priamos herbeizurufen, auch der König Agamemnon schickte den Herold Talthybios zu den Schiffen,

       ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in Priamos' Tochter Laodike umgestaltet, eilte, die

       Botschaft der Fürstin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand sie am Webestuhl, ein köstliches

       Gewand mit den Kämpfen der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf ihre Arbeit

       geheftet. »Komm doch heraus, trautes Kind«, rief sie ihr zu, »du sollst etwas Seltsames schauen! Die

       Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur Feldschlacht gegeneinander anrückten,

       ruhen stillschweigend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Boden gesteckt, einander

       gegenüber; aber Krieg ist beendigt; nur deine Gatten Alexander und Menelaos werden mit der Lanze

       um dich kämpfen: und wer seinen Gegner besiegt, trägt dich als Gemahlin davon!«

       So sprach die Göttin und erfüllte das Herz Helenas mit Sehnsucht nach ihrem Jugendgemahl

       Menelaos, nach der Heimat und nach den Freunden. Sie hüllte sich schnell in einen silberweißen

       Schleier, in welchen sie die Träne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte, von Aithra und

       Klymene, zweien ihrer Dienerinnen, gefolgt, nach dem Skäischen Tore. Hier saß auf den Zinnen König

       Priamos mit den ältesten und verständigsten Greisen des trojanischen Volkes, Panthoos, Thymötes,

       Lampos, Klytios, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die beiden letztern waren die verständigsten

       Männer von Troja; sie alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom Kriege aus, in der Ratsversammlung

       aber war ihr Wort das tüchtigste. Als diese von der Höhe des Turmes Helena herankommen sahen,

       flüsterten die Greise, die Gestalt der Fürstin bestaunend, einander leise zu: »Fürwahr, niemand soll

       Trojaner und Griechen tadeln, daß sie für ein solches Weib so lange im Elend ausharren. Gleicht sie

       doch einer unsterblichen Göttin an Herrlichkeit! Aber auch mit solcher Gestalt mag sie immerhin auf

       den Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unsern Söhnen nicht der Schaden

       zurückbleibe!« Priamos aber rief Helena liebreich herbei: »Komm näher heran«, sprach er, »mein

       Töchterchen, setze dich zu mir her, ich will dir deinen ersten Gemahl, deine Freunde und deine

       Verwandten zu schauen geben; du bist mir nicht schuld an diesem jammervollen Kriege; die Götter

       sind es, die ihn mir zugesendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Mannes Namen, der dort so

       groß und herrlich über alle Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier und da noch

       größere Männer in dem Heere, aber von so königlicher Gestalt habe ich doch noch keinen unter

       ihnen gesehen.«

       Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: »Teurer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen

       mich, indem ich dir nahe. Mir wäre der bitterste Tod besser gewesen, als daß ich, Heimat, Tochter

       und Freunde verlassend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Tränen möchte ich zerfließen, daß es

       geschah! Nun aber höre: der dort, nach dem du fragst, ist Agamemnon, der trefflichste König und ein

       tapferer Krieger; er war, ach, er war dereinst mein Schwager!« »Glücklicher Atride«, rief Priamos aus,

       den Helden sich betrachtend, »Gesegneter, dessen Zepter zahllose Griechen gehorchen! Auch ich

       stand einst in männlicher Jugend an der Spitze eines großen Heeres, als wir die Horde der Amazonen

       von Phrygien abwehrten; doch war mein Heer nicht so groß wie das deinige!« Dann fragte der Greis

       von neuem: »Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen; er ragt nicht so hoch empor wie der

       Atride, aber seine Brust ist breiter, seine Schultern sind mächtiger; seine Wehr liegt zu Boden

       gestreckt; er selbst umwandelt die Reihen der Männer wie ein Widder die Schafe.« »Das ist der Sohn

       des Laërtes«, antwortete Helena, »der schlaue Odysseus; Ithaka, die felsige Insel, ist seine Heimat.«

       Jetzt mischte sich auch der Greis Antenor ins Gespräch: »Du hast recht, Fürstin«, sagte er, »ihn und

       Menelaos


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