Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav  Schwab


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Agamemnon ist mir verhaßt wie die Pforte des Hades, und weder er noch die

       Griechen werden mich bereden, wieder in ihren Reihen zu kämpfen; denn wann habe ich einen Dank

       für meine Heldenarbeit davongetragen? Wie eine Mutter den nackten Vögelchen den gefundenen

       Bissen darbringt, auch wenn sie selbst hungert, so habe ich unruhige Nächte und blutige Tage genug

       zugebracht, um jenen Undankbaren ein Weib zu erobern, und was ich erbeutet hatte, brachte ich

       dem Atriden zur Gabe dar; er aber nahm die Schätze, behielt das meiste und verteilte davon nur

       weniges; mir selbst hat er auch die lieblichste Beute entrissen. Darum will ich morgen schon Zeus und

       den Göttern opfern; noch im Morgenrote sollen meine Schiffe im Hellespont schwimmen, und in

       dreien Tagen hoffe ich in Phthia zu Hause zu sein. Einmal hat er mich betrogen, zum zweiten Male

       wird er mich nicht täuschen; er begnüge sich! Gehet und meldet den Fürsten diese Botschaft, Phönix

       aber bleibe, wenn es ihm gefällt, und schiffe heim mit mir ins Land der Väter!«

       Vergebens suchte Phönix, sein alter Freund und Führer, den jungen Helden auf andere Gedanken zu

       bringen. Dieser winkte dem Patroklos, dem alten Helden ein warmes Bette zurechtzumachen. Da

       stand Ajax auf und sprach: »Odysseus, laß uns gehen, in der Brust des Grausamen wohnt keine

       Milde; den Unbarmherzigen bewegt nicht die Freundschaft der Genossen, er trägt ein

       unversöhnliches Herz im Busen!« Auch Odysseus erhob sich nun vom Mahle, und nachdem sie den

       Göttern das Trankopfer dargebracht, verließen sie mit den Herolden das Zelt des Achill, bei dem nur

       Phönix zurückblieb.

       Dolon und Rhesos

       Als Odysseus die unwillkommene Botschaft aus dem Zelte des Peliden mitbrachte, verstummten

       Agamemnon und die Fürsten. Kein Schlaf legte sich die ganze Nacht über auf die Augenlider der

       Atriden; in banger Angst erhoben sich beide noch lang vor Tagesanbruch und teilten sich in ihr

       Geschäft. Menelaos ging, die Helden Mann für Mann in den Zelten zu bearbeiten; Agamemnon aber

       wandelte nach der Lagerhütte Nestors. Er fand den Greis noch im weichen Bette ruhend; Rüstung,

       Schild, Helm, Gurt und zwei Lanzen lagen an der Seite des Lagers. Der Greis, aus dem Schlaf erweckt,

       stützte sich auf den Ellbogen und rief dem Atriden zu: »Wer bist du, der in finsterer Nacht, wo andere

       Sterbliche schlummern, so einsam durch die Schiffe wandelt, als suchtest du einen Freund oder ein

       verlaufenes Maultier? So rede doch, du Schweigender, was suchst du?« »Erkenne mich, Nestor«,

       sprach jener leise, »ich bin Agamemnon, den Zeus in so unergründliches Leid versenkt hat; kein

       Schlaf kommt in meine Augen; mein Herz klopft; meine Glieder zittern aus Angst um die Danaer. Laß

       uns zu den Hütern hinabgehen, ob sie nicht schlummern. Weiß doch keiner von uns, ob die Feinde

       nicht noch in der Nacht einen Angriff machen werden!« Nestor zog eilig seinen wollenen Leibrock an,

       warf den Purpurmantel um, ergriff die Lanze und durchwandelte mit dem Könige die Schiffsgassen.

       Zuerst weckten sie Odysseus, der auf ihren Ruf sogleich den Schild um die Schultern warf und ihnen

       folgte; dann nahte sich Nestor dem Zelt und der Lagerstatt des Tydiden, berührte ihm den Fuß mit

       der Ferse und weckte ihn scheltend. »Unmüßiger Greis«, antwortete der Held im halben Schlafe, »du

       kannst doch nimmer von der Arbeit ruhen! Gäbe es nicht Jüngere genug, die das Heer bei Nacht

       durchwandern und die Helden aus dem Schlafe wecken könnten? Aber du bist unbändig, Alter!« »Du

       hast wohlziemend geredet«, erwiderte ihm Nestor, »habe ich doch selbst Völker genug, dazu

       treffliche Söhne, die dies Amt verrichten könnten. Aber die Bedrängnis der Achiver ist viel zu groß, als

       daß ich nicht selbst tun sollte, was das Herz mir gebietet. Auf der Schwertspitze steht bei ihnen

       Untergang und Leben; deswegen erhebe dich und hilf du selbst uns den Ajax und Meges, den Sohn

       des Phyleus, wecken!« Diomedes warf sogleich sein Löwenfell um die Schultern und holte die

       verlangten Helden. Nun musterten sie zusammen die Schar der Hüter, aber keinen fanden sie

       schlafend: alle saßen munter und wach in ihren Rüstungen da.

       Allmählich waren jetzt alle Fürsten vom Schlaf aufgeweckt worden, und bald saß die

       Ratsversammlung vollständig beisammen. Nestor aber begann das Gespräch: »Wie wär es, ihr

       Freunde«, sagte er, »wenn jetzt ein Mann die Kühnheit hätte, hinzugehen zu den Trojanern, ob er

       nicht etwa einen der Äußersten erhaschen könnte oder ihren Rat erlauschen und erfahren, ob sie

       hier auf dem Schlachtfelde zu bleiben gedenken oder mit dem Siege sich in ihre Stadt

       zurückzuziehen? Edle Gaben sollten den kühnen Mann belohnen, der solches wagte!« Als Nestor

       ausgeredet, stand Diomedes auf und erbot sich zu dem Wagnisse, falls ein Begleiter sich zu ihm

       gesellen wollte. Da fanden sich viele bereit: die Ajax beide, Meriones, Antilochos, Menelaos und

       Odysseus; und Diomedes sprach: »Wenn ihr mir anheimstellet, den Genossen selbst zu wählen, wie

       sollte ich des Odysseus vergessen, der in jeder Gefahr ein so entschlossenes Herz zeigt und den Pallas

       Athene liebt! Wenn er mich begleitet, glaube ich, wir würden aus einem Flammenofen zurückkehren;

       denn er weiß Rat wie keiner.« »Schilt und rühme mich nicht zu sehr«, antwortete Odysseus, »du

       redest beides vor kundigen Männern! Aber gehen wir; denn die Sterne sind schon weit vorgerückt,

       und wir haben nur noch ein Dritteil von der Nacht übrig.«

       Darauf hüllten sich beide in furchtbare Rüstung und machten sich unkenntlich; Diomedes ließ

       Schwert und Schild bei den Schiffen und entlehnte das zweischneidige Schwert des Helden

       Thrasymedes sowie dessen Sturmhaube und Stierhaut, ohne Federbusch und Roßschweif. Dem

       Odysseus gab Meriones Bogen, Köcher und Schwert und einen Helm von Leder und Filz mit

       Schweinshauern. So verließen sie das griechische Lager und wandelten in der Nacht dahin. Da hörten

       sie einen Reiher von der rechten Seite schreiend vorüberflattern, wurden des Glückszeichens froh,

       das ihnen Pallas Athene sendete, und flehten zu ihr um Begünstigung ihres Unternehmens. So gingen

       sie durch Waffen, Blut und Leichen im Dunkel dahin, an Mut zween wilden Löwen gleich.

       Während diese Auskundschaftung im griechischen Lager verabredet wurde, hatte in der

       Versammlung seiner Trojaner Hektor denselben Vorschlag gemacht und aus der griechischen Beute,

       die er hoffte, einen Wagen und zwei der edelsten Rosse dem Manne versprochen, der es über sich

       nehmen würde, den Zustand des griechischen Lagers zu erforschen. Nun befand sich unter dem

       trojanischen Volke der Sohn des Eumedes, eines edlen Herolds, namens Dolon, ein an Geld und Erz

       wohlbegüterter Mann von unansehnlicher Gestalt, aber ein gar hurtiger Läufer, neben fünf

      


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