Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab
erhoben. Sie erblickten den Rumpf der getöteten Schwester und erhoben sich auf ihren Fittichen,
den Räuber zu verfolgen. Diesen aber verbarg der Nymphenhelm vor ihren Augen, und sie konnten
ihn nirgends innewerden. In der Luft faßten inzwischen den Perseus die Winde und schleuderten ihn,
wie Regengewölk, bald da‐, bald dorthin. Als er über den Sandwüsten Libyens schwebte, rieselten
blutige Tropfen vom Medusenhaupte auf die Erde nieder, welche sie auffing und zu bunten
Schlangen belebte. Seitdem ist jenes Erdreich an feindseligen Nattern so ergiebig. Perseus flog nun
weiter westwärts und senkte sich endlich im Reiche des Königes Atlas nieder, um ein wenig zu rasten.
Dieser hütete einen Hain voll goldener Früchte mit einem gewaltigen Drachen. Umsonst bat der
Besieger der Gorgone ihn um ein Obdach. Für sein goldenes Besitztum bange, stieß ihn Atlas
unbarmherzig von seinem Palaste fort. Da ergrimmte Perseus und sprach: »Du willst mir nichts
gönnen; empfange du wenigstens ein Geschenk von mir.« Er holte die Gorgo aus seinem Schubsacke
hervor, wandte sich ab und streckte sie dem König Atlas entgegen. Groß wie der König war, wurde er
augenblicklich zu Stein und in einen Berg verwandelt; Bart und Haupthaar dehnten sich zu Wäldern
aus; Schultern, Hände und Gebein wurden Felsrücken; sein Haupt wuchs als hoher Gipfel in die
Wolken. Perseus nahm seine Fittiche wieder und schnallte sie sich an die Sohlen, hängte sich den
Schubsack um, setzte den Helm auf und schwang sich in die Lüfte. Auf seinem Fluge kam er an eine
Küste Äthiopiens, wo der König Kepheus regierte. Hier sah er an eine hervorragende Meeresklippe
eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupthaar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen
Tränen gezittert, so würde er sie für ein Marmorbild gehalten haben. Fast hätte er in der Luft die
Flügel zu bewegen vergessen, so bezaubert war er von dem Reize ihrer Schönheit. »Sprich, schöne
Jungfrau«, redete er sie an, »du, die du ganz anderes Geschmeide verdientest, warum bist du hier in
Banden? Nenne mir doch den Namen deines Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!« Das
gefesselte Mädchen schwieg verschämt; sie scheute sich, den fremden Mann anzureden, und hätte
gern ihr Angesicht mit den Händen bedeckt, wenn sie sich hätte regen können. So aber konnte sie
nur ihre Augen mit quellenden Tränen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben möchte, sie
habe eine eigene Schuld vor ihm zu verbergen, erwiderte sie: »Ich bin Kepheus', des Königs der
Äthiopier, Tochter und heiße Andromeda. Meine Mutter hatte gegen die Töchter des Nereus, die
Meeresnymphen, geprahlt, schöner zu sein als sie alle. Darüber zürnten die Nereiden, und ihr
Freund, der Meeresgott, ließ eine Überschwemmung und einen alles verschlingenden Haifisch über
das Land kommen. Ein Orakelspruch versprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Tochter
der Königin, dem Fische zum Fraße hingeworfen würde. Das Volk drang in meinen Vater, dieses
Rettungsmittel zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an diesen Felsen zu binden.«
Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, als die Wogen aufrauschten und aus der Tiefe
des Meeres ein Scheusal auftauchte, das mit seiner breiten Brust die ganze Wasserfläche umher
einnahm. Das Mädchen jammerte laut auf; zugleich sah man Vater und Mutter herbeieilen, beide
trostlos, doch in der Mutter Zügen drückte sich noch dazu das Bewußtsein der Schuld aus. Sie
umarmten die gefesselte Tochter, aber sie brachten ihr nichts mit als Tränen und Wehklagen. Jetzt
begann der Fremdling: »Zum Jammern wird euch noch Zeit genug übrigbleiben; die Stunde der
Rettung ist kurz. Ich bin Perseus, der Sprößling des Zeus und der Danae; ich habe die Gorgone
besiegt; und wunderbare Flügel tragen mich durch die Luft. Selbst wenn die Jungfrau frei wäre und
zu wählen hätte, wäre ich kein verächtlicher Eidam! Jetzt werbe ich um sie mit dem Erbieten, sie zu
retten. Nehmet ihr meine Bedingung an?« Wer hätte in solcher Lage gezaudert? Die erfreuten Eltern
versprachen ihm nicht nur die Tochter, sondern auch ihr eigenes Königreich zur Mitgift.
Während sie dieses verhandelten, war das Untier wie ein schnellruderndes Schiff
herangeschwommen und nur noch einen Schleuderwurf von dem Felsen entfernt. Da plötzlich, das
Land mit dem Fuße abstoßend, schwang sich der Jüngling hoch empor in die Wolken. Das Tier sah
den Schatten des Mannes auf dem Meere. Während es tobend auf diesen losging, als auf einen
Feind, der ihm die Beute zu entreißen drohte, fuhr Perseus aus der Luft wie ein Adler herunter, trat
schwebend auf den Rücken des Tieres und senkte das Schwert, mit dem er die Meduse getötet hatte,
dem Haifisch unter dem Kopf in den Leib, bis an den Knauf. Kaum hatte er es wieder herausgezogen,
so sprang der Fisch bald hoch in die Lüfte, bald tauchte er wieder unter in die Flut, bald tobte er nach
beiden Seiten wie ein von Hunden verfolgter Eber. Perseus brachte ihm Wunde um Wunde bei, bis
ein dunkler Blutstrom sich aus seinem Rachen ergoß. Indessen troffen die Flügel des Halbgotts, und
Perseus wagte nicht länger, sich dem wasserschweren Gefieder anzuvertrauen. Glücklicherweise
erblickte er ein Felsriff, dessen oberste Spitze aus dem Meere hervorragte. Auf diese Felswand
stützte er sich mit der Linken und stieß das Eisen drei‐ bis viermal in das Gekröse des Ungetüms. Das
Meer trieb die ungeheure Leiche fort, und bald war sie in den Fluten verschwunden. Perseus hatte
sich indessen ans Land geschwungen, hatte den Felsen erklommen und die Jungfrau, die ihn mit den
Blicken des Dankes und der Liebe begrüßte, der Fesseln entledigt. Er brachte sie den glücklichen
Eltern, und der goldene Palast empfing ihn als Bräutigam. Noch dampfte das Hochzeitsmahl, und die
Stunden strichen dem Vater und der Mutter, dem Bräutigam und der geretteten Braut in
sorgenfreier Eile dahin, als plötzlich die Vorhöfe der Königsburg mit einem dumpfen, brausenden
Getümmel sich füllten. Phineus, der Bruder des Königs Kepheus, der früher um seine Nichte
Andromeda geworben, aber in der letzten Not sie verlassen hatte, nahte mit einer Schar von Kriegern
und erneuerte seine Ansprüche. Den Speer schwingend, trat er in den Hochzeitssaal und rief dem
erstaunten Perseus zu: »Sieh mich hier, der ich komme, die mir entrissene Gattin zu rächen; weder
deine Flügel noch dein Vater Zeus sollen dich mir entreißen!« So rief er, schon zum Speerwurfe sich
anschickend: da hub sich Kepheus, der König, vom Mahle. »Rasender Bruder«, rief er, »welcher
Gedanke treibt dich zur Untat? Nicht Perseus raubt dir die Geliebte; sie wurde dir schon damals
entrissen, als wir sie dem Tode preisgaben, als du zusahest, wie sie gefesselt wurde, und weder als
Oheim noch als