Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil - Gustav  Schwab


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Inzwischen hatte Krëusa von dem Gotte nichts mehr erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer

       und ihres Sohnes vergessen habe. Um diese Zeit gerieten die Athener in einen Krieg mit den

       Bewohnern der Nachbarinsel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde und in welchem die

       letzteren unterlagen. In diesem Kampfe war den Athenern besonders wirksam ein Fremdling aus

       Achaja beigestanden. Es war dies Xuthos, ein Sohn des Äolos, der selbst ein Sohn des Zeus war. Zum

       Lohne seiner Hilfe begehrte und erhielt er die Hand der Königstochter Krëusa; aber es war, als ob der

       ihr heimlich angetraute Gott die Geliebte seinen Zorn empfinden ließe, daß sie sich einem andern

       vermählt hatte; denn ihre Ehe war nicht mit Kindern gesegnet. Nach langer Zeit verfiel Krëusa auf

       den Gedanken, sich an das Orakel zu Delphi zu wenden und von ihm Kindersegen zu erflehen. Dies

       war es, was Apollo gewollt; denn er hatte seines Sohnes keineswegs vergessen. So brach die Fürstin

       mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von Dienerinnen auf und wallfahrtete zu dem Tempel

       nach Delphi. Als sie vor dem Gotteshause ankamen, trat gerade der junge Sohn Apollos über die

       Schwelle, um gewohnterweise das Tor und den Vorhof mit Lorbeerzweigen zu fegen. Da fiel sein

       Auge auf die edle Matrone, welche auf die Tore des Tempels zugewandelt kam und der beim

       Anblicke des Heiligtums Tränen über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren würdige

       Gestalt ihm auffiel, bescheiden um die Ursache ihres Kummers zu befragen. »Es wundert mich nicht,

       o Jüngling«, erwiderte sie seufzend, »daß meine Traurigkeit deinen Blick auf sich zieht; habe ich doch

       Geschicke zu beweinen, die man mir wohl ansehen mag. Die Götter verfahren oft hart mit uns

       Sterblichen!« »Ich will deinen Kummer nicht weiter stören«, sprach der Jüngling, »aber sage mir,

       wenn es zu wissen erlaubt ist, wer du bist und von wannen du kommst.« »Ich bin Krëusa«,

       antwortete die Fürstin, »mein Vater heißt Erechtheus, mein Vaterland ist Athen.« Mit unschuldiger

       Freude rief der Jüngling: »Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch berühmtem Geschlechte

       stammst du! Aber sage mir, ist es wahr, wie man es auf Bildern bei uns sieht, daß deines Vaters

       Großvater Erichthonios aus der Erde wie ein anderes Gewächs emporgesprossen ist, daß die Göttin

       Athene den erdgeborenen Knaben in eine Kiste eingeschlossen, ihm zwei Drachen als Wächter

       beigegeben und das Kistchen den Töchtern des Kekrops zur Bewahrung überlassen habe; daß diese

       aus Neugierde dasselbe eröffnet und beim Anblicke des Knaben in Wahnsinn geraten und sich von

       dem Felsen der Kekropischen Burg herabgestürzt?« Krëusa bejahte die Frage schweigend, denn das

       Schicksal ihres Urahns erinnerte sie an das Geschick ihres verlorenen Sohnes. Dieser aber, der vor ihr

       stand, fuhr fort, unbefangen weiter zu fragen: »Sage mir auch, hohe Fürstin, ist es wahr, daß dein

       Vater Erechtheus seine Töchter, deine Schwestern, auf den Ausspruch eines Orakels und mit ihrem

       freien Willen dem Tode geopfert, um über die Feinde zu siegen? Und wie kam es, daß du allein

       gerettet worden bist?« »Ich war«, sprach Krëusa, »ein neugeborenes Kind und lag in den Armen der

       Mutter.« »Und ist es auch wahr«, so fragte der Jüngling weiter, »daß dein Vater Erechtheus von

       einem Erdspalt verschlungen worden ist, daß der Dreizack Poseidons ihn verderbt hat und daß in der

       Nähe seines Erdgrabes eine Grotte ist, die mein Herr, der pythische Apollo, so lieb hat?« »O schweige

       mir von jener Grotte, Fremdling«, unterbrach ihn seufzend Krëusa, »in ihr ist eine Treulosigkeit und

       ein großer Frevel begangen worden.« Die Fürstin schwieg eine Weile, sammelte sich wieder und

       erzählte dem Jüngling, in welchem sie den Tempelhüter des Gottes erkannte, daß sie die Gemahlin

       des Fürsten Xuthos und mit diesem nach Delphi gewallfahrtet sei, um für ihre unfruchtbare Ehe den

       Segen Gottes zu erflehen. »Phöbos Apollo«, sprach sie mit einem Seufzer, »kennt die Ursache meiner

       Kinderlosigkeit; er allein kann mir helfen.« »So bist du kinderlos, Unglückliche?« sagte betrübt der

       Jüngling. »Ich bin es längst«, erwiderte Krëusa, »und ich muß deine Mutter beneiden, guter Jüngling,

       die sich eines so holdseligen Sohnes erfreut.« »Ich weiß nichts von einer Mutter und von einem

       Vater«, gab der junge Mann betrübt zur Antwort, »ich lag nie an eines Weibes Brust; ich weiß auch

       nicht, wie ich hierhergekommen bin; nur so viel weiß ich aus dem Munde meiner Pflegemutter, der

       Priesterin dieses Tempels, daß sie sich meiner erbarmt und mich großgezogen hat; das Haus des

       Gottes ist seitdem meine Wohnung, und ich bin sein Knecht.« Bei diesen Mitteilungen wurde die

       Fürstin sehr nachdenklich, doch drängte sie ihre Gedanken in die Brust zurück und sprach die

       traurigen Worte: »Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der es gegangen ist wie deiner Mutter; um

       ihretwillen bin ich hierhergekommen und soll das Orakel befragen. So will ich denn dir, als dem

       Diener des Gottes, ihr Geheimnis anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der diese Wallfahrt auch

       gemacht, aber unterwegs abgelenkt ist, um das Orakel des Trophonios zu hören, den Tempel betritt.

       Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit dem großen Gotte Phöbos Apollo vermählt gewesen

       zu sein und ihm ohne Wissen ihres Vaters einen Sohn geboren zu haben. Diesen setzte sie aus und

       weiß seitdem nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht schaut oder nicht. Über sein Leben

       oder seinen Tod den Gott auszuforschen, bin ich im Namen meiner Freundin hierhergekommen.«

       »Wie lang ist es her, daß der Knabe tot ist?« fragte der Jüngling. »Wenn er noch lebte, so hätte er

       dein Alter, o Knabe«, sprach Krëusa. »O wie ähnlich ist das Schicksal deiner Freundin und das

       meine!«rief mit dem Ausdrucke des Schmerzes der junge Mann; »sie sucht ihren Sohn, und ich suche

       meine Mutter. Doch ist, was ihr geschehen ist, fern von diesem Lande geschehen, und leider sind wir

       beide einander ganz fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von seinem Dreifuße dir die gewünschte

       Antwort erteilen wird. Bist du doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer Treulosigkeit

       anzuklagen; er wird nicht über sich selbst Richter sein wollen!« »Halt ein, Jüngling«, rief jetzt Krëusa,

       »dort sehe ich den Gatten jener Frau herannahen; laß dir nichts von dem merken, was ich dir,

       vielleicht allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.«

       Xuthos kam fröhlich in den Tempel und auf seine Gemahlin zugeschritten. »Frau«, rief er ihr

       entgegen, »Trophonios hat einen glücklichen Ausspruch getan: ich soll nicht ohne Kinder von hinnen

       ziehen! Aber sage mir, wer ist dieser junge Prophet des Gottes?« Der Jüngling trat dem Fürsten

       bescheiden entgegen und erzählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollos sei und im innersten

      


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