Schatten des Todes. Anton Tschechow

Schatten des Todes - Anton Tschechow


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      LUNATA

Schatten des Todes

      Schatten des Todes

      © 1919 Anton Tschechow

      Aus dem Russischen von Korfiz Holm

      Umschlagbild: Paul Cézanne La Maison Rondest

      © Lunata Berlin 2020

      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Über den Autor

      1

      Es lebt da irgendwo in Russland ein verdienter Gelehrter, ein gewisser Professor, Geheimer Rat und Ritter Nikolai Stepanowitsch Soundso; er hat so viele russische und ausländische Orden, daß die Studenten, wenn er sie einmal anlegen muß, einen frommen Schauer fühlen, wie vor der reliquienbehängten Wand des Allerheiligsten. Sein Verkehr ist der vornehmste; wenigstens hat es in den letzten fünfundzwanzig, dreißig Jahren keinen berühmten Gelehrten gegeben, mit dem er nicht intim bekannt gewesen wäre. Heutzutage gibt's keine Freunde mehr für ihn, aber wenn man rückwärts schaut, endet die lange Liste seiner bedeutenden Intimen mit Namen, wie Pirogow, Kawjelin und Nekrassow, dem Dichter. Sie alle haben ihn ihrer aufrichtigen und warmen Freundschaft gewürdigt. Er ist korrespondierendes Mitglied sämtlicher russischer und dreier ausländischer Universitäten. Und so weiter, und so weiter. Dies alles, und vieles andere, was man noch anführen könnte, macht meinen sogenannten »Namen« aus.

      Dieser Name ist populär. In Russland kennt ihn jeder einigermaßen gebildete Mensch, und auf den ausländischen Lehrstühlen wird er mit den Epitheta: »der berühmte und verehrte« genannt. Er gehört zu der kleinen Zahl von glücklichen Namen, über die man nicht schimpfen oder hämisch reden kann, ohne beim Publikum und der Presse in den Ruf eines Menschen von schlechtem Geschmack zu kommen. Und so muß es auch wohl sein. Denn eng mit meinem Namen verknüpft ist das Bild eines berühmten Mannes, der hochbegabt und der Allgemeinheit unzweifelhaft nützlich ist. Ich bin arbeitsam und ausdauernd wie ein Kamel, und das ist eine große Sache; und ich habe Talent, das ist eine noch größere Sache. Und außerdem bin ich ein wohlerzogener, bescheidener und anständiger Mensch. Ich habe meine Nase nie in die Literatur oder die Politik gesteckt, ich habe mir nie durch Polemiken mit Ignoranten Popularität zu erwerben versucht, ich habe nie Reden gehalten, weder bei Festessen, noch bei den Beerdigungen meiner Kollegen... Überhaupt trägt mein wissenschaftlicher Name keinen Flecken, und niemand kann ihm etwas nachsagen. Er ist glücklich.

      Der Träger dieses Namens nun, das heißt, ich, ich bin ein Mann von zweiundsechzig Jahren mit einer Glatze, falschen Zähnen und einem unheilbaren Tick. So glänzend und schön mein Name ist, so finster und häßlich bin ich selbst. Mein Kopf und meine Hände zittern vor Schwäche; mein Hals hat Ähnlichkeit mit dem einer Bassgeige, was Turgenjew auch von einer seiner Heldinnen behauptet; meine Brust ist eingefallen, mein Rücken schmal. Wenn ich spreche oder vortrage, zieht sich mein Mund schief; wenn ich lächle, bedeckt sich mein ganzes Gesicht mit greisenhaften Runzeln. Nichts Besonderes ist an meiner traurigen Gestalt; höchstens, wenn ich mal wieder an meinem Tick leide, zeigt sich in meinem Äußeren ein ganz merkwürdiger Zug, bei dem wohl jeder, der mich zu Gesicht bekommt, unwillkürlich den grausamen Gedanken fassen muß: »Na, der da macht's auch nicht mehr lange!«

      Die Art meines Vortrags ist nach wie vor nicht übel; wie früher vermag ich die Aufmerksamkeit meiner Hörer noch durch zwei Stunden zu fesseln. Mein Feuer, der gute Stil, in dem ich meine Auseinandersetzungen gebe, und mein Humor verdecken die Mängel meines Organs fast vollständig. Meine Stimme nämlich ist trocken, scharf und singend, wie das Zirpen einer Heuschrecke. Aber mit dem Schreiben geht es schlecht. Der Teil des Gehirns, der die schriftstellerische Tätigkeit regiert, hat mir den Dienst gekündigt. Mein Gedächtnis hat nachgelassen, meinen Gedanken fehlt es an der nötigen Folgerichtigkeit, und wenn ich sie auf dem Papier darlegen will, kommt es mir regelmäßig so vor, als hätte ich das Gefühl für ihren organischen Zusammenhang verloren. Mein Satzbau ist eintönig, die Ausdrucksweise dürftig und ängstlich. Häufig schreibe ich nicht, was ich schreiben will; und wenn ich zum Schluß komme, weiß ich den Anfang nicht mehr. Oft vergesse ich die gewöhnlichsten Worte, und stets muß ich eine Menge Energie verschwenden, damit ich keine überflüssigen Phrasen und unnützen Einleitungen in meine Briefe hineinbringe. Das alles ist ein klarer Beweis für den Niedergang meiner Verstandestätigkeit. Und, das ist interessant: je einfacher der Brief, desto qualvoller die Anstrengung. Bei einem wissenschaftlichen Aufsatz fühle ich mich viel freier und klüger als bei einem Gratulationsschreiben oder einer kurzen Benachrichtigung. Und dann noch eins: es fällt mir viel leichter, deutsch oder englisch zu schreiben, als russisch.

      Was meine jetzige Lebensweise betrifft, so muß ich vor allen Dingen die Schlaflosigkeit erwähnen, unter der ich in letzter Zeit leide. Wenn mich einer fragen würde: was ist heute das hauptsächlichste und wichtigste Merkmal deiner Existenz? Ich müßte antworten: die Schlaflosigkeit. Wie in früheren Zeiten ziehe ich mich gewohnheitsgemäß Punkt zwölf Uhr aus und lege mich ins Bett. Ich schlafe bald ein, aber um zwei bin ich wieder wach, und zwar mit einem Gefühl, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Ich muß aufstehen und die Lampe anzünden. Eine Stunde lang, oder zwei, wandere ich aus einer Zimmerecke in die andere und betrachte mir die Bilder und Photographien, die ich längst auswendig kenne. Habe ich genug vom Gehen, dann setze ich mich an meinen Tisch. Ich sitze, ohne mich zu rühren, denke an nichts und fühle keinen Wunsch; wenn gerade ein Buch vor mir liegt, ziehe ich es mechanisch zu mir heran und lese ohne jedes Interesse. So habe ich vor kurzem in einer Nacht mechanisch einen ganzen Roman mit dem sonderbaren Titel »Was die Schwalbe sang« durchgelesen. Oder ich zwinge mich, um meine Aufmerksamkeit wach zu halten, und zähle bis tausend, oder stelle mir das Gesicht irgendeines Kollegen vor und fange an, mich zu besinnen, in welchem Jahr und unter welchen Umständen er berufen worden ist. Dann liebe ich es auch, auf Geräusche zu horchen. Bald sagt, zwei Zimmer von meinem entfernt, meine Tochter Lisa etwas im Schlaf, dann geht meine Frau mit einem Licht durch das Wohnzimmer und läßt ganz sicher die Streichholzschachtel fallen, dann kracht es im Schrank von der Ofenwärme, oder die Flamme der Lampe fängt auf einmal zu singen an – und all diese Laute regen mich auf, ich weiß nicht warum.

      Nachts nicht schlafen, heißt: sich jede Minute eingestehen, daß man nicht normal ist, und darum warte ich mit Ungeduld auf den Morgen und den Tag, wo ich ein Recht habe, nicht zu schlafen. Eine lange, qualvolle Zeit geht hin, bevor der Hahn unten auf dem Hofe kräht. Das ist mein erster froher Bote. Sobald er kräht, weiß ich doch, daß in einer Stunde da unten der Portier erwacht und unter wütendem Gehuste, wozu, weiß ich nicht, die Treppe heraufsteigt. Und dann wird die Luft hinter den Fensterscheiben langsam bleicher und bleicher, auf der Straße werden Stimmen laut...

      Mein Tag fängt damit an, daß meine Frau hereinkommt. Sie ist in der Nachtjacke, noch nicht frisiert, aber schon gewaschen, und riecht nach Blumen-Eau-de-Cologne. Sie macht ein Gesicht, als käme sie ganz zufällig, und sagt jeden Tag dasselbe:

      »Pardon, ich wollte nur einen Augenblick... Hast du wieder nicht geschlafen?«

      Dann bläst sie die Lampe aus, setzt sich an den Tisch und fängt zu sprechen an. Ich bin kein Prophet, aber ich weiß im voraus, wovon die Rede sein wird. Gewöhnlich fällt ihr nach einigen sehr besorgten Anfragen wegen meines Gesundheitszustandes auf einmal unser Sohn ein, der in Warschau Offizier ist. Kurz nach dem zwanzigsten schicken wir ihm jeden Monat fünfzig Rubel – und das ist im wesentlichen auch das Thema unserer Unterhaltung.


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