Schatten des Todes. Anton Tschechow

Schatten des Todes - Anton Tschechow


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zu erzählen. Dank der intimen Bekanntschaft, die alle Diener und Portiers der Universität verbindet, weiß er alles, was in den vier Fakultäten, im Sekretariat, im Rektorzimmer und in der Bibliothek passiert. Was wüßte er nicht? Und ist es ein böser Tag für uns, hat zum Beispiel der Rektor demissioniert, oder ein Dekan, so höre ich oft, wie er im Gespräch mit den jungen Dienern die Kandidaten für den erledigten Posten aufzählt und ihnen zugleich erklärt, den und den würde der Minister nicht bestätigen, und der wieder würde selbst ablehnen. Und dann versenkt er sich in phantastische Details, erzählt von geheimnisvollen Schriftstücken, die beim Sekretariat eingelaufen seien, von einer diskreten Besprechung, die der Minister mit dem Kurator gehabt haben soll, und so weiter. Und wenn man diese Details abzieht, erweist es sich fast immer, daß er im allgemeinen recht hat. Die Charakteristiken, die er von den Kandidaten entwirft, sind wohl originell, aber gleichfalls treffend. Und wenn einer wissen will, in welchem Jahr irgend jemand seinen Doktor gemacht hat, berufen, emeritiert oder gestorben ist, braucht er nur das ungeheure Gedächtnis dieses alten Soldaten zu Hilfe zu rufen, und er wird ihm nicht nur Jahr, Monat und Tag nennen, sondern auch alle Einzelheiten mitteilen, die dies oder jenes Ereignis begleitet haben. So ein Gedächtnis hat einer nur, wo er liebt.

      Er ist der Bewahrer der Hochschultraditionen. Von seinen Vorgängern im Amt hat er als Erbschaft eine Menge Legenden aus dem Universitätsleben überliefert bekommen, und zu diesem Reichtum hat er viel eigenes Gut hinzugefügt, das er in seiner Dienstzeit aufgespeichert hat, und wenn ihr wollt, erzählt er euch viel lange und kurze Geschichten. Er kann von ungewöhnlich klugen Männern berichten, die alles wußten, von erstaunlichen Arbeitskräften, die wochenlang ohne Schlaf auskamen, von vielen Märtyrern und Opfern der Wissenschaft; das Gute triumphiert bei ihm über das Böse, der Schwache besiegt immer den Starken, der Kluge den Dummen, der Bescheidene den Hochmütigen, der Junge den Alten ... Es ist nicht nötig, daß man alle diese Legenden und Sagen für bare Münze nimmt, aber wenn man sie durchseiht, bleibt auf dem Filter, was bleiben muß: unsere guten Traditionen und die Namen der wahrhaften Helden, die von der ganzen Welt anerkannt sind.

      In unseren gesellschaftlichen Kreisen beschränkt sich die Kenntnis von der Gelehrtenwelt auf Anekdoten über die außergewöhnliche Zerstreutheit der Professoren und auf zwei, drei Bonmots, die bald Gruber, bald mir, bald Labuchin zugeschrieben werden. Für die gebildete Gesellschaft ist das aber wenig genug. Wenn sie die Wissenschaft, die Gelehrten und die Studenten so liebte, wie Nikolai es tut, so hätte sie längst ganze Epopöen, Chroniken, Lebensläufe, wie sie sie jetzt leider nicht hat.

      Nachdem er seine Neuigkeit ausgekramt hat, bekommt Nikolais Gesicht einen strengen Ausdruck, und das amtliche Gespräch zwischen uns beginnt. Wenn irgendein Laie zuhören könnte, wie ungezwungen sich Nikolai dabei der Terminologie bedient, er könnte zu der Meinung kommen, er wäre ein Gelehrter und hätte sich nur als alter Militäranwärter maskiert. Hierbei möchte ich ganz im allgemeinen bemerken, daß die Gerüchte über die Gelehrsamkeit der Universitätsdiener sehr übertrieben sind. Es ist ja richtig, Nikolai weiß mehr als hundert lateinische Bezeichnungen, er versteht ein Skelett zusammenzusetzen, er kann hie und da ein Präparat machen und die Studenten durch irgendein langes gelehrtes Zitat zum Lachen bringen, aber, zum Beispiel, die doch nicht sehr verwickelte Theorie des Blutkreislaufes ist ihm heute noch genau so dunkel, wie vor zwanzig Jahren.

      An seinem Tisch in meinem Kabinett sitzt, tief über ein Buch oder ein Präparat gebeugt, mein Prosektor Pjotr Ignatjewitsch, ein arbeitsamer, bescheidener, aber unbegabter Mensch von fünfunddreißig Jahren, schon kahlköpfig und mit einem dicken Bauch. Er arbeitet vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein, liest eine Menge, behält alles, was er gelesen hat, – und ist in dieser Hinsicht kein Mensch mehr, sondern einfach ein Schatz; in jeder anderen Beziehung aber ist er der reine Karrengaul, oder, mit anderen Worten, ein gelehrter Trottel. Die charakteristischen Merkmale des Karrengauls, die ihn von einem Talent unterscheiden, sind diese: sein Gesichtskreis ist eng und scharf durch sein Spezialfach begrenzt; außerhalb seines Spezialfaches ist er naiv wie ein kleines Kind. Ich weiß noch, wie ich eines Morgens in mein Kabinett trat und sagte:

      »Denken Sie mal, was für ein Unglück! Skobeljew soll gestorben sein.«

      Nikolai bekreuzigte sich, Pjotr Ignatjewitsch aber wandte sich zu mir und fragte:

      »Was für ein Skobeljew?«

      Ich glaube, die Patti könnte dicht neben ihm zu singen anfangen, oder eine Horde Chinesen dürfte Russland überfallen, oder ein Erdbeben losbrechen, er würde kein Glied rühren und äußerst ruhig, das eine Auge zugekniffen, in sein Mikroskop schauen. Mit einem Wort, Hekuba ist ihm aber auch gar nichts. Ich würde viel dafür zahlen, wenn ich mal zusehen dürfte, wie dieser Schiffszwieback mit seiner Frau schläft.

      Ein weiterer Zug: sein fanatischer Glaube an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft, und besonders an alles, was von Deutschen geschrieben ist. Er ist überzeugt von sich, von seinen Präparaten, er kennt den Zweck des Daseins und hat keine Ahnung von den Zweifeln und Enttäuschungen, die talentvolle Menschen vorzeitig grau werden lassen. Er verehrt die Autoritäten sklavisch und hat nicht das geringste Bedürfnis, selbständig zu denken. Es ist schwer, ihm irgend etwas auszureden, mit ihm zu streiten ist unmöglich. Es soll doch mal einer mit einem Menschen streiten, der fest davon überzeugt ist, daß die Medizin die höchste Wissenschaft sei; daß die hervorragendsten Menschen die Ärzte seien und die beste Tradition – die medizinische. Von der schlimmen medizinischen Vergangenheit her ist nur eine Tradition übrig geblieben – die weiße Krawatte, die die Ärzte jetzt tragen; und für den Gelehrten und überhaupt jeden gebildeten Menschen gibt es nur allgemein wissenschaftliche Traditionen, ohne jede Einteilung in medizinische, juridische und so weiter, aber Pjotr Ignatjewitsch fällt es zu schwer, sich hiermit einverstanden zu erklären, und er wäre bereit, sich darüber mit einem bis zum Jüngsten Gericht zu streiten.

      Seine Zukunft steht mir klar vor Augen. Er wird in seinem Leben einige hundert Präparate von außergewöhnlicher Exaktheit herstellen, wird sehr viele trockene, durchaus angemessene Referate schreiben, wird etwa zehn Bücher gewissenhaft übersetzen, aber das Pulver wird er nicht erfinden. Zum Pulvererfinden gehört Phantasie, Entdeckergeist, Ahnungsvermögen, aber Pjotr Ignatjewitsch fehlt es an dergleichen gänzlich. Kurz und gut, er ist kein Herr in der Wissenschaft, sondern ein Tagelöhner.

      Ich, Pjotr Ignatjewitsch und Nikolai sprechen nur halblaut. Es ist uns ein bißchen unbehaglich zumute. Ein ganz sonderbares Gefühl, wenn hinter der Tür das Auditorium wie ein Meer brandet! In dreißig Jahren habe ich mich an dieses Gefühl nicht gewöhnt und mache es jeden Morgen durch. Ich knöpfe nervös meinen Rock zu, richte ganz überflüssige Fragen an Nikolai, werde ärgerlich ... Es sieht beinahe so aus, als hätte ich Angst, aber es ist keine Feigheit, es ist etwas anderes, das ich weder benennen noch beschreiben kann.

      Ohne jede Veranlassung sehe ich auf die Uhr und sage:

      »Na? Es wird Zeit.«

      Und wir gehen in dieser Ordnung: voraus geht Nikolai mit den Präparaten oder den Atlanten, hinter ihm ich, und hinter mir schreitet mit bescheiden gesenktem Kopfe der Karrengaul; oder wenn das nötig ist, wird auf der Bahre eine Leiche vorausgetragen, hinter der Leiche geht Nikolai, und so weiter. Bei meinem Erscheinen erheben sich die Studenten, dann setzen sie sich wieder, und der Lärm des Meeres verstummt plötzlich. Es tritt eine Stille ein.

      Ich weiß, worüber ich sprechen werde, weiß aber nicht, wie ich sprechen, womit ich anfangen und schließen werde. Nicht einen fertigen Satz habe ich im Kopfe. Aber ich brauche nur mein Auditorium zu überblicken (die Bänke in meinem Hörsaal sind amphitheatralisch angeordnet) und das stereotype: »Das letzte Mal sind wir stehen geblieben bei ...« auszusprechen, und die Gedanken entströmen schon in langer Reihe meinem Geiste, und – die ganze Schar schreibt! Ich spreche unaufhaltsam schnell, feurig, und mir ist, als gäbe es keine Kraft, die imstande wäre, den Strom meiner Rede aufzuhalten. Um gut vorzutragen, das heißt, ohne die Zuhörer zu langweilen und doch zu ihrem Nutzen, braucht man außer dem Talent auch Anpassungsfähigkeit und Erfahrung, man muß eine sichere und klare Vorstellung haben von seinen Kräften, von den Leuten, zu denen man spricht, und von dem Gegenstand des Vortrages. Außerdem muß man seinen Kopf beisammen haben, scharf aufpassen und keine Sekunde sein Gesichtsfeld außer Augen lassen.

      Ein guter Dirigent,


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