Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein
mehr um seiner Liebe willen verstoßen. Und ob er
wohl noch lebte? – Da machte der alte Graf sich auf,
den Sohn zu suchen, und suchte ihn ab und zu am
Rheinstrom und in den Flußtälern, die in diesen münden,
und in den Seitentälern und auf den Bergen. Da
kam er einst ermüdet an ein kleines Winzergehöft,
und da traf er ein Winzerpaar, Mann und Frau und
wohl auch Kinder, und sahe, wie diese Leute ringsum
den Felsboden gerodet hatten und hatten Reben gepflanzt
und gewannen ihr Brot, das sie mit ihm teil-
ten, denn er war hungrig, und das junge Weib bot ihm
Trauben aus irdener Schüssel, und der Mann trat
dazu, auf der Schulter den blinkenden Karst, blinkend
von stetem, fleißigem Gebrauche. Da erkannte der
alte Graf mit einem Male seinen Sohn in dem Häcker
und fiel ihm um den Hals und weinte und segnete.
Darauf hat der Ritter über sein Weinberggehöft sich
eine Burg gebaut und sie mit den Seinen bezogen,
denn er wollte nicht mehr hinweg von dem Stück
Erde, das er mit seinem Weibe gerodet und bebaut
hatte. Das nannte man hernach den Grafenroder oder
kurzweg Graroder Hof, weil ein Graf es gerodet hatte.
Der alte Graf lebte noch lange Jahre glücklich bei seinen
Kindern und Enkeln, und der junge Graf nahm
zum Helmkleinod einen bärtigen Mann im schwarzen
kurzen Rock, auf der Schulter eine silberne Rodhaue
tragend, zum Andenken, daß er selbst mit seiner Geliebten
den Boden gerodet habe. In der alten Kirche
zu Schierstein am Rhein sind noch Grabmäler des Geschlechts
zu sehen.
73. Not Gottes
Zu Rüdesheim am Rhein bewohnte das mannliche
Geschlecht der Brömser von Rüdesheim ihre uralte
graue Feste, deren Aufbau in die Römerzeit fällt, und
weiter stromabwärts an der Waldberger Höhe ist das
Kloster gelegen, welches den wunderbarlichen Namen
Not Gottes trägt. Ein Brömser von Rüdesheim zog
nach Palästina, tat allda viele mannliche Taten, bezwang
viele Sarazenen und kämpfte mit einem Drachen,
den er auch erlegte, aber bei dieser Gelegenheit
oder bald darauf fiel er in die Hände der Ungläubigen,
die ihm schwere Ketten zu tragen auferlegten. Da gelobte
er in seinem Kerker, seine Tochter, die er als ein
junges Kind verlassen, dem Himmel zu weihen, wenn
sie am Leben bleibe und er in die Heimat rückkehre.
Und siehe, des Ritters Ketten fielen von ihm ab, der
Himmel nahm das dargebotene Opfer an, der Ritter
entkam und eilte der Heimat zu. Freudvoll empfing
ihn seine schön erblühte Tochter, und er offenbarte ihr
sein Gelübde. Da wurde die Tochter bleich wie der
Tod – sie war in Minne einem jungen Ritter zugetan,
dessen Hand zugesprochen zu erhalten sie von ihrem
Vater zuversichtlich gehofft. Aber es halfen nicht Flehen,
nicht Tränen, der Vater glaubte dem Himmel vor
allem schuldig zu sein, sein ritterliches Wort zu hal-
ten. Da enteilte die Tochter laut wehklagend der
Brömserburg, erklimmte den nächsten Felsen und
stürzte sich in den Strom hinab. –
Groß war des Vaters Schmerz, und da er nun sein
Gelübde nicht halten konnte, und um des teuern Kindes
Schatten zu söhnen, tat er ein abermaliges Gelübde,
er wollte ein Kloster erbauen. Es ging aber ein
Mond nach dem andern hin, und mochte wohl so
kommen, daß der alte Brömser durch alten Rüdesheimer
seinen Schmerz hinwegbannte und darob sein
Gedächtnis etwas schwach ward – da hatte er einmal
ein nächtliches Gesicht: der Drache, den er in Palästina
erlegt, war wieder bei ihm, und lebendig, und
fauchte ihn mit weitaufgesperrtem Rachen an und
drohte ihn zu verschlingen mit Haut und Haar – da
sah er die Gestalt seiner Tochter, die winkte den Drachen
hinweg und blickte gar wehmutvoll auf den
Brömser und verschwand.
Am Morgen aber kam des Brömsers Ackerknecht
und sagte an, wie er in aller Frühe mit dem Pflug und
den Stieren zu Acker gezogen sei, habe er eine klagende
Stimme vernommen, die immerfort gerufen:
Not Gottes! Not Gottes! Und die Stiere hätten nicht
anziehen wollen, sondern immer am Boden gescharrt.
Sogleich begab sich Ritter Brömser selbst hinaus auf
das Ackerfeld, und da vernahm er dieselbe wehklagende
Stimme: Not Gottes! Not Gottes!, die ganz in
der Nähe von der Stelle drang, wo die Ochsen standen
und scharrten, und zwar kam die Stimme aus einem
hohlen Baume. Der Ritter rief und suchte, aber er entdeckte
nichts, da ließ er den Baum spalten, und da
entdeckte sich innen am Boden des hohlen Stammes
eine Monstranz mit dem heiligen Leib und ein hölzernes
Bild des Schmerzensmannes. Als diese Kleinode
dem Baum entnommen waren, schwieg die Stimme,
und die Stiere waren ruhig. Ein Jude hatte beide heiligen
Stücke aus einer nahen Kirche entwendet und
allda verborgen. Das erinnerte nun den Brömser stark
an die Erfüllung seines Gelübdes; er gründete ein
Kloster, ließ an des hohlen Baumes Stelle den Altar
aufrichten und stellte das Christusbild darauf, und geschahen
zu dem Kloster, das Zur Not Gottes genannt
ward, und zu dem Bilde viele Wallfahrten rheinab
und -auf, daß öfters an einem Tage sechzehntausend
andächtige Waller da waren, und das Bild tat vordem
große Wunder.
74. Räderberg
Auf dem Räderberge ohnweit Nassau soll vorzeiten
ein Kloster gestanden haben, davon man noch einige
Trümmer sieht, aber niemand wisse, wes Ordens.
Einst ging ein Metzger aus Nassau gegen Abend aus,
Vieh einzukaufen, und wandelte auf der Landstraße