Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein
immer nach und hatte des Weges weiter nicht acht.
Auf einmal da hält die Kutsche vor einem großen
schönen Landhaus, das dicht an der Straße steht, das
aber der Metzger sich nicht entsinnen kann je gesehen
zu haben, sooft er auch des Weges schon gekommen.
Das Haus war hell erleuchtet, und aus der Kutsche
sah der Metzger drei Mönche steigen, welche in das
Haus hineingingen, und da er vermeinte, es sei das
Haus ein Gasthaus, so folgte er ihnen ebenfalls nach,
um des Hauses Gelegenheit zu erkunden und vielleicht
da Herberge zu suchen. Er sah die Mönche in
ein Zimmer gehen, wo ein Sterbender zu liegen
schien, der ihrer harrte, um die Sterbesakramente zu
empfangen, und dann trat er in einen großen Speisesaal,
wo, so schien es ihm, viele Gäste beisammensaßen,
aßen und ziemlich lärmend zechten. Als der
Metzger eintrat, verstummten alle – aber der obenan
Sitzende erhob sich und brachte dem Metzger einen
Becher dar mit den Worten: Noch einen Tag! – Dem
Metzger überlief es kalt bei der Stimme, die er hörte,
und aller Durst verging ihm – da erhob sich ein Zweiter,
trat an ihn heran, gleich wie jener, bot ihm einen
Becher zum Trinken und sagte auch: Noch ein Tag! –
aber der Metzger dankte. Da erhob ein Dritter sich,
kam und sagte: Und noch ein Tag! Jetzt trank der
Metzger und tat Bescheid, um nicht unhöflich zu erscheinen
– als ein Vierter auf ihn zukam und ihm in
gleicher Weise anbieten zu wollen schien. Da wurde
es dem Metzger ganz unheimlich, und schlug ein
Kreuz vor sich hin – und plötzlich war alles hinweg,
er stand in tiefer Nacht ganz mutterseelenallein und
wußte nicht, wo er war, um ihn war Waldgestrüpp
und Ruinengemäuer. Zitternd und bebend erharrte der
Metzger an der wüsten Stätte den Morgen, und als
dieser anbrach, nahm jener wahr, daß er auf dem Räderberg
sei, von der Landstraße weit, weit abgekommen,
mitten in den Trümmern des verfallenen Klosters.
Auf unbegangenem steinigen Wege fand der
Metzger sich zurück, unterließ seinen Geschäftsgang,
ging vielmehr zum Pfarrer und entdeckte ihm, was
ihm geschehen war. Genau nach drei Tagen war der
Metzger tot.
75. Die Wisperstimme
Ohnweit Lorch am Rhein liegt eine Mühle im Wispertale
und am Wisperbach, darinnen lebten der Müller,
seine Frau und einige Kinder ganz gut und glücklich.
Das Haus lag dicht am Berg, auf dem die alten
Schlösser Kammerberg und Rheinberg stehen. Einer
Zeit geschah es, daß die Müllerin eine Stimme hörte,
als wispere ihr jemand in das Ohr, und sahe doch niemand
– und dann wisperte es von neuem: Gehe hinauf
auf Kammerberg, hebe den Schatz im Turm – er ist
dir bestimmt – der Schlüssel steckt am schwarzen Kasten.
– Die Frau, dadurch beunruhigt, erzählte ihrem
Manne, was sie immer um sich flüstern und wispern
hörte, der aber sagte: Passen! Träumerei! Hirngespinste
– kehre dich nicht an solche Dinge – unser Schatz
ist der weiße Mehlkasten! – Aber die Frau hörte die
Wisperstimme fort und fort und hatte keine Ruhe
mehr und hatte auch Lust zum Schatz, wenn der ihr
doch einmal beschert sei – und eines Morgens, da der
Müller weit oben im Tale am Wehr in der Wisper zu
bauen hatte und nicht so bald nach Hause zu kommen
gedachte, ging die Frau mit ihrem jüngsten Kinde,
einem Säugling, in aller Stille hinauf auf den Kammerberg.
Der Müller aber vollendete sein Geschäft
früher und kam nach Hause, es war gerade Mittag und
Essenszeit, aber die Müllerin fehlte. Wie er nun nach
der Mutter fragte, so sagte ihm sein ältester Knabe,
daß seine Mutter mit dem Jüngsten auf dem Arm
schon vor ein paar Stunden den Berg hinaufgegangen
sei. Eilend rann der Müller hinauf, und als er in die
Trümmer eintrat, hörte er die Stimme seines wimmernden
Kindes, die aus der Öffnung eines halbverfallenen
Turmgewölbes drang, stieg hinab und fand
darin sein Weib leblos am Boden liegen. Eilend zieht
er Frau und Kind aus dem Gemäuer und trägt und
schleppt beide hinab in sein Haus. Dann ist nach langer
Ohnmacht die Müllerin zu sich gekommen und
hat erzählt, die Wisperstimme habe ihr Tag und
Nacht keine Ruhe gelassen, sie habe hinaufgemußt,
und die Stimme habe ihr auf dem Wege noch zugewispert,
sie solle ganz ohne Furcht und Bangen sein,
es werde ihr nichts geschehen, nur reden solle sie um
keinen Preis. Sie stieg in das Turmgewölbe hinab –
da stand der Kasten, da stak der Schlüssel, sie öffnete
– da lag das blanke Gold – sie durfte nur nehmen –
da hört sie plötzlich ihren ältern Knaben hinter sich
rufen: Mutter! Mutter! und antwortet unwillig: Was
gibt's?, und da tut es einen entsetzlichen Krach, als
berste der Turm und stürze das Gemäuer auf sie und
ihr Kind nieder, und eine Stimme ruft aus: Weh! weh!
Warum redest du? Nun bin ich wieder unerlöst auf
aber hundert Jahre! – und da ist es der Müllerin
schwarz vor den Augen geworden. – Und als sie das
alles ihrem Mann erzählt gehabt, ist sie in eine tiefe,
schwere Krankheit verfallen, und nach drei Tagen ist
sie eine Leiche gewesen. So hat es der Wispermüller
selbst erzählt im Jahr des Herrn achtzehnhundertundvierzehn.
76. Die glühenden Kohlen
Im Städtchen Lorch am Rhein, da, wo die Wisper in
den Strom fällt, steht an der Stadtmauer auch eine
Mühle, deren Räder die raschen Wellen der Wisper
treiben. Einer Nacht erwachte die Magd in dieser
Mühle sehr früh, es war ganz hell, und sie meinte