Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein
Das alles wirkte noch lange nach seinem Ableben
St. Goar durch seine fortdauernde Wunderkraft.
97. Die Brüder
Auf den nachbarlichen Burgen Sternfels und Liebenstein
am Rhein wohnten zwei Brüder, die waren sehr
reich und hatten die Burgen stattlich von ihres Vaters
Erbe erbaut. Da ihre Mutter starb, wurden sie noch
reicher, beide hatten aber eine Schwester, die war
blind, mit der sollten nun die Brüder der Mutter Erbe
teilen. Sie teilten aber, da man das Geld in Scheffeln
maß, daß jedes ein volles Maß nach dem andern
nahm, und die blinde Schwester fühlte bei jedem, daß
eines so richtig voll war wie das andere; die arglistigen
Brüder drehten aber jedesmal, wenn es ans Maß
der Schwester ging, dieses um und deckten nur den
von schmalem Rand umgebenen Boden mit Geld zu,
da fühlte die Blinde oben darauf und war zufrieden,
daß sie ein volles Maß empfing, wie sie nicht anders
glaubte. Sie war aber gottlos betrogen, dennoch war
mit ihrem Gelde Gottes Segen, sie konnte reiche Andachten
in drei Klöster stiften, zu Bornhofen, zu Kidrich
und Zur Not Gottes. Aber mit dem Gelde der
Brüder war der Unsegen für und für, ihre Habe verringerte
sich, ihre Herden starben, ihre Felder verwüstete
der Hagel, ihre Burgen begannen zu verfallen, und sie
wurden aus Freunden Feinde und bauten zwischen
ihren nachbarlich nahe gelegenen Burgen eine dicke
Mauer als Scheidewand, deren Reste noch heute zu
sehen sind. Als all ihr Erbe zu Ende gegangen, versöhnten
sich die feindlichen Brüder und wurden wieder
Freunde, aber auch ohne Glück und Segen. Beide
bestellten einander zu einem gemeinschaftlichen Jagdritt,
wer zuerst munter sei, solle den andern Bruder
frühmorgens durch einen Pfeilschuß an den Fensterladen
wecken. Der Zufall wollte, daß beide gleichzeitig
erwachten, beide gleichzeitig die Armbrust spannten,
im gleichen Augenblick den Laden aufstießen und
schossen, und daß der Pfeil jedes von ihnen dem andern
in das Herz fuhr – das war der Lohn ihrer untreuen
Tat an ihrer blinden Schwester.
Andere erzählen, es habe das Geschick nur den
einen Pfeil eines der Brüder dem einen der Brüder in
das Herz gelenkt, darauf sei der andere zur Buße nach
dem Heiligen Grabe gepilgert und im Morgenlande
verstorben. Noch andere haben neue Märlein über
dies feindliche Brüderpaar ersonnen, denen Kundige
es auf den ersten Blick ansehen, daß sie früher nie als
Sagen im Volke lebten.
98. Die wandelnde Nonne
Nahe bei Niederlahnstein, am rechten Rheinufer,
stand einst ein Frauenkloster, Machern, darinnen ging
es nichts weniger als gottwohlgefällig zu. Es gab Besuche
von Mönchen aus Nachbarklöstern, gab wüste
Gelage, Geschrei, auch nächtliche Reigen, und spät
des Nachts fuhren die Mönche auf raschen Rollwagen
durch den Hohlweg, einen Bach entlang, nach
Herchheim und Niederlahnstein zu. Nur eine einzige
Nonne war fromm und tugendhaft, sie betete viel und
las die heiligen Geschichten, während ihre Schwestern
sich im vollen Sinnentaumel aller Weltlust hingaben.
Da kam einst ein frommer Klausner namens Michael,
der in einem stillen Tale bei Marienburg hauste, in
einer Sturmnacht an das Klostertor, als gerade im
Kloster der Konvent die Lahnsteiner Kirmes feierte,
wobei es hoch herging und nicht an geliebten Gästen
fehlte, und begehrte Einlaß, allein die weltlichen Sünderinnen
fürchteten einen geistlichen Zeugen und ließen
ihn nicht ein, sie ließen ihn obdachlos und ungelabt
draußen bleiben. Da verwünschte der fromme
Mann im zornigen Eifer das ganze Kloster und die
Nonnen zu Nachteulen und Nachtgespenstern und alle
die buhlenden Mönche zu Teufelslarven, und am
Morgen – war das Kloster verschwunden, und öde
war die Stätte, wo es gestanden. Seitdem vernimmt
man alljährlich zur Zeit des Lahnsteiner Kirmesfestes
hinten in der Talschlucht, wo das Kloster stand, Gekreisch
und Geheul und wilden Spuk, den Schall von
Buhlliedern und wieder dazwischen fromme Weisen –
und gewahrt auch wohl grausige Mönchsgespenster
auf Rollwagen mit feuersprühenden Rädern durch das
Tal dahinfahren. Die einzige fromme Nonne aber
wandelt in heiligen Nächten und auch zu jener Kirmeszeit
ernst und mild an einen verwitterten Bildstock,
der am Bächlein steht, das aus dem Tale
kommt, ab und auf und scheint in einem Buche zu
lesen. Niemand tut sie etwas zuleide, grüßt auch
wohl, doch ist ihr Anblick vielen schon schreckend
gewesen.
Das Kloster Machern aber, das hier der Einsiedel
Michael mit seiner Verwünschung dem Boden enthob,
wurde an der Mosel nahe bei Zeltingen wiedergefunden
und dort mit frommen Insassen bevölkert.
Vom Klausner Michael aber geht die Sage, daß er
beim Nahen des Todes Gott angefleht, seinen Leichnam
nicht unbegraben zu lassen, und siehe, als er
Todes verblich, da läuteten die Glocken der alten Johanniskirche
bei Niederlahnstein von selbst, von Engelhänden
gezogen; da kamen Menschen herbei, erhuben
des Klausners Hülle und bestatteten sie in des Johanniskirchhofs
geweihete Erde.
99. Die Frau von Stein
Auf dem Schlosse Stein im Nahetale wohnte eine edle
Herrin des gleichen Namens, die war eine Witwe und
hatte einen gar mannlichen und ritterlichen Herrn zum
Gemahl gehabt. Von dem hatte sie vier blühende
Töchter und zwei Söhne, die hatten auch bereits den
Ritterschlag empfangen, die vier Töchter aber waren
alle vermählt,