Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein
und wohlgetan. Da gab einstens die edle
Frau von Stein ihren Söhnen, Eidamen und Töchtern
ein stattlich Gastmahl, und hatte außer diesen niemand
dazu geladen, und waren bei Tische alle fröhlich
und guter Dinge, und da sprach die Frau von
Stein: Vier biedere Ritter zu Eidamen, zwei biedere
Ritter zu Söhnen, vier brave blühende Töchter! Und
eines herrlichen Ritters Witwe! Welche Witwe kann,
gleich mir, sich solchen Glückes rühmen? Dieser
Ehren ist allzuviel, deren ich teilhaft worden! – Die
Söhne, Töchter und Eidame vernahmen der Mutter
Wort, priesen sie als die glücklichste Witwe des
Reichs und ließen auf der Mutter Wohl und langes
Leben die Becher freudig aneinanderklingen. Nach
einer Weile verließ die Frau von Stein ihren Sitz, als
wolle sie draußen noch etwas befehlen oder anordnen
– und die Versammelten plauderten lange, ehe
ihnen auffiel, daß ja die Mutter gar nicht wiederkam.
Der Heerwisch
Vielleicht habe sie sich ein wenig zum Schlummer
niedergelegt, vermuteten die Töchter und sahen leise
in ihr Schlafklosett, die Frau von Stein war aber nicht
darin. Das Gesinde ward befragt, aber keins hatte die
Frau hinweggehen sehen – und niemand hat je erfahren,
wohin sie gegangen, und niemand hat sie jemals
wiedergesehen, denn nimmer kam sie wieder.
100. Der kühne Kurzbold
Es war ein Graf des untern Lahngaues, Kunz, ein
Bruderssohn des deutschen Königs Konrad, des Vaters
von Heinrich dem Finkler – der war gar ein tapferer
Held und Degen, aber klein von Gestalt, daher
hatte er den Beinamen Kurzbold erhalten, was nicht
viel mehr besagen will als Däumling. Aber je kleiner
Kurzbolds Körper war, um so größer war sein Geist,
der verschaffte dem Helden den Namen des Weisen.
Der Held Kurzbold hing mit eiserner Freundschaft an
Heinrich dem Finkler, gegen den das salische Geschlecht
der nahen Anverwandten Kurzbolds sich empörte
und zu Felde zog. Das waren vornehmlich Giselbert,
Herzog von Lothringen, Eberhard, Herzog
von Franken, die führten ein Heer und wollten bei
Breisig, unterhalb Andernach, über den Rhein fahren.
Da harrte ihrer am andern Ufer Kurzbold mit nur vierundzwanzig
Wappnern, und als der eine Nachen,
darin Giselbert, der Lothringer, saß, anlanden wollte,
da stieß Kurzbold seine Lanze mit so heftiger Gewalt
in den Kahn, daß dieser alsbald sank und niedertauchte
und die Rheinflut alle darinnen Sitzenden überströmte
und verschlang. Während dies geschah, war
Eberhard der Franke gelandet; alsobald wandte sich
Kurzbold gegen ihn, rannte ihn an und stieß ihn mit
seinem Schwerte durch und durch.
Da Heinrich der Finkler nicht mehr am Leben war
und Otto, zubenamt der Erste oder auch der Große,
deutscher König geworden, hielt auch der den Helden
Kurzbold gar wert. Da der König mit Kurzbold einstmals
allein stand, geschah es, daß ein gefangener
Löwe aus seinem Käfig brach und auf beide Männer
zustürzte. Der König, der unbewehrt stand, griff nach
Kurzbolds Schwert, das dieser an der Seite trug, aber
Kurzbold kam dem König zuvor, warf sich dem
Löwen entgegen und tötete ihn. Zu einer andern Zeit
forderte ein riesenhaft gewachsener Petscheneger aus
dem dem König Otto gegenüberliegenden Slawenheere
des Herzogs von Böhmen die Heerführer Ottos
zum Zweikampfe, indem er auf seine große Kraft und
furchtbare Gestalt pochte. Da trat ihm, wie voreinst
dem Riesen Goliath der kleine David, der kühne
Kurzbold entgegen zum Fußkampf mit Lanzen, entglitt
gewandt dem Stoß des Riesen und rannte ihn mit
seiner Lanze und mit seiner schrecklichen Kraft sogleich
zu Boden. Zweierlei mochte Held Kurzbold
nicht leiden, Weiber und Äpfel, daher blieb er unverheiratet
und erbenlos, gründete aber zu Limburg an
der Lahn die herrliche St. Georgenkirche, die er dem
Lindwurmtöter auf derselben Stelle erbauen ließ und
weihte, wo, der Sage nach, vordem ein Lindwurm gehaust,
der der frühern Burg, wie der heutigen Stadt,
den Namen Lindburg gab, was eine spätere Zeit in
Limburg umwandelte. In dieser Kirche ist des heldenmütigen
Kurzbold Grabmal noch zu sehen.
Kapitel 6
101. Die Luftbrücke
Aus dem Ahrtale ragten stolz und kühn einst zwei
stattliche Nachbarburgen einander gegenüber, zwischen
beiden rauschte in der Taltiefe die Ahr, das
waren die Schlösser Nuwenahr und Landskron, und
hoch über dem Tale zog sich eine luftige Brücke, welche
beide Burgsitze miteinander verband. Die beiden
Herren dieser Burgen, der Graf von Nuwenahr und
der Herr von Landskron, waren so traut befreundet,
daß sie gemeinschaftlich diese Brücke bauten, welche
mit unsaglicher Kunst gefügt war, ohne Stützen und
doch dauerhaft, so daß die beiden Freunde zu jeder
Stunde beisammensein und doch auch jeder schnell
wieder in seinem Hause sein konnte, während ein
nachbarlicher Besuch durch Herabritt und Hinaufritt
mehrere Stunden in Anspruch nahm. Als diese Freunde
verstorben waren, kam die Brücke in Verfall, die
Elemente zerstörten sie, nur blieben an jeder Burg die
Brückenpfeiler, die das Ganze mächtig stützen mußten,
erhalten. Da geschah es, daß ein Rittersohn auf
Landskron seine Nachbarin, eine junge Gräfin von
Nuwenahr, liebte, die waren eingedenk ihrer Väter
Freundschaft und wünschten sich sehnend die Brücke
zurück. Da band die Grafentochter an einen Armbrustpfeil