Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein
gehen im Bündnerlande noch alte Lieder.
– Kaiser Maximilian nannte scherzweise den
Rheinstrom die lange Pfaffengasse, wegen der zahlreichen
und hochberühmten Bistümer und Hochstifte an
seinen Ufern, und nannte Chur das oberste Stift, Konstanz
das größte, Basel das lustigste, Straßburg das
edelste, Speier das andächtigste, Worms das ärmste,
Mainz das würdigste und Köln das reichste.
2. Des Schweizervolkes Ursprung
In alten Zeiten, bevor noch das Schweizerland bevölkert
und bebaut war, saß ein starkes und zahlreiches
Volk in Ost- und Westfriesland und im Lande Schweden,
und kam über dieses Volk große Hungersnot und
leidiger Mangel. Da beschlossen die Gemeinden, weil
der Menschen bei ihnen zu viel, daß von Monat zu
Monat eine Schar auswandern sollte, und sollte die
das Los bestimmen. Wen es treffe, der müsse fort bei
Strafe Leibes und Lebens, ob hoch oder niedrig, und
mit Weib und Kindern. Als dies immer noch nicht
fruchtete und dem Mangel steuerte, so ward fernerweit
beschlossen, daß jede Woche der zehnte Mann ausgeloset
werden und hinwegziehen solle. So geschah es,
und zogen an die sechstausend Schweden fort und
zwölfhundert Friesen mit ihnen, und ernannten sich
Führer. Deren Namen waren Suiter, Swey und Josius,
noch andere Restius, Rumo und Ladislaus. Sie fuhren
auf Schiffen den Rhein hinauf und hatten unterwegs
manchen Kampf zu bestehen; endlich kamen sie in ein
Land, das hieß das Brochen- oder Brockengebirg (wie
es auch im Harzwald einen Brockenberg hat), allda
bescherte ihnen Gott Wonne und Weide, und sie bauten
sich an und verteilten sich in das Land, wirkten
und schafften. Ein Teil zog ins Brünig (Bruneck), ein
anderer an die Aar. Ein Teil Schweden, die aus der
Stadt Hasle (gehört jetzt dem Dänen) stammten, die
erbauten Hasli und wohnten darin unter ihrem Führer
Hasius. Restius erbaute die Burg Resty bei Meiringen
und wohnte allda, Swey und Suiter gaben der Schweiz
und dem Volke den Gesamtnamen. Auch das Bernerland
gewannen sie, waren ein treu und gehorsam
Volk, trugen zwilchne Kleider, nährten sich von
Fleisch, Milch und Käse, denn des Obstes war damals
noch nicht viel im Lande. Sie waren starke Leute, wie
die Riesen, voll Kraft, und Wälder auszureuten war
ihnen so leicht wie einem Fiedler sein Geigenbogen.
Davon gehen noch alte Lieder, die sagen aus, wie
ihrer ein Teil unter dem Führer Ladislaus und Suiter
gen Rom gezogen und dem römischen Kaiser tapfer
beigestanden gegen hereingebrochenes Heidenvolk,
und wie beide Führer vom Kaiser Feldzeichen empfangen,
Adler und Bären, ein rotes Kreuz, und auf der
Krone des Aaren ein weißes, und haben dann diese
Zeichen nach der neuen Heimat getragen. Immer noch
erzählen sich auf ihren Bergen die Alpenhirten, wie
die Vorfahren im Lande gezogen und wie die Berge
eher bewohnt gewesen als die Täler. Erst ein späteres
jüngeres Geschlecht habe die Talgründe bebaut, wie
das auch in andern Bergländern geschehen ist.
3. Sankt Gallus
Schon in frühen Zeiten drang das Christentum in das
rätische Gebirge. Ein britischer Königssohn, Ludius
mit Namen, soll über Meer gekommen sein und diesem
Lande zuerst das Evangelium gepredigt haben.
Nach ihm heißt noch ein Gebirgspfad zwischen Graubünden
und der Herrschaft Vaduz (Fürstentum Liechtenstein)
der Ludiensteig. Nach ihm kamen die Apostel
Rätiens und Helvetiens, Sankt Gallus und seine
Gefährten Mangold und Siegbert, ersterer der Sohn
eines Königs in Schottland, mit dem heiligen Columban
an den Bodensee, zerstörten die Götzenbilder und
brachen das Heidentum. Sie wohnten als fromme Einsiedler
in Hütten, heilten Kranke und predigten das
Evangelium. Ein alemannischer Herzog, Gunzo,
wohnte in Überlingen, damals Iburinga genannt, dem
war die Tochter schwer erkrankt; der heilige Gallus
heilte sie, und dafür schenkte ihm und seinen Gefährten
Gunzo ein großes Waldgebirge zum Eigentum, in
welchem sie sich nun besser anbauten. Aus diesem ersten
Anbaue ist die hernachmals so berühmte und
herrliche Abtei Sankt Gallen geworden, welche einer
Stadt und einem ganzen Lande den Namen gegeben.
Aber St. Gallus blieb, als er noch im irdischen Leben
wandelte, nicht beständig in seiner Einsiedelei, er
stieg, als die Abtei St. Gallen schon begründet war,
der Sitter entlang höher empor und erbaute sich an geeignetem
Ort eine neue Zelle, das Hirtenvolk zu bekehren.
Diese nannte das Volk des Abten Zelle, daraus
ist der Name Appenzell entstanden. Das Hirtenvolk
nahm auch willig das Christentum an, als aber
später die mächtige Abtei dasselbe in seiner Freiheit
bedrohte, erhob es sich zum Kampfe. Der Abt von St.
Gallen suchte Hülfe bei Österreich, da saß aber droben
auf der festen Burg Werdenberg ein edler Grafensohn,
Rudolf von Werdenberg, der hielt zu den Hirten
des Appenzeller Gebietes und führte sie zum Kampfe
gegen St. Gallen. Am Stoß geschah eine heftige
Schlacht, lange schwankte der Sieg, plötzlich kam
über den Berg herüber eine großmächtige Schar
Kriegsvolk den Hirten zu Hülfe – als die Feinde der
Appenzeller diese erblickten, flohen sie eilend vom
Schlachtfeld. Es waren aber die Hülfsvölker, die sich
gezeigt und durch ihren Anblick von weitem den
Feind hinweggeschreckt, keineswegs Kriegsmänner,
sondern der Hirten Weiber und Töchter in männlicher
Tracht gewesen. Seitdem blieb das Ländlein Appenzell
mitten im St. Galler Lande ein eigenfreies und regierte