Operation Ljutsch. Reinhard Otto Kranz

Operation Ljutsch - Reinhard Otto Kranz


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      Während Ulm sprach, strich er den Spachtel in einem finalen Akkord von letzten Gips ab, kam herüber und setzte sich zu Oie aufs Sofa.

      »Nun erzähl mal – was liegt an? Fliehst du vor dem Gestaltungsrummel der Metropole oder weshalb suchst du die Ruhe der Provinz?«

      Diese Spitze kam nicht überraschend, denn im Gegensatz zu den Bildenden Künstlern führte Oie als Gestalter ein nahezu aktionistisches Leben. Das lag in der Natur der Sache und das wusste er. Dieses kleine Vorurteil war auch schon damals, zu Ostzeiten – vor allem durch Alma verbreitet – entstanden, als er in der Szene der baugebundenen Kunst mit besonderen Arbeitsweisen neue Wege ging und auf die Möglichkeiten von Gesamtgestaltung, wie er es nannte, aufmerksam machte.

      Ulm hatte gut Reden, fand Oie: Seit fünfundzwanzig Jahren am gleichen Platz, seit dreißig Jahren mit derselben Frau und der gleichen, immer anders schönen Arbeit, was auch in einem Bildhauer-Leben nicht so oft vorkommt.

      So war die Anspielung, auf seinen Ortswechsel vor langer Zeit, das Stichwort und er gab zu: »Ulm, diesmal fliehe ich wirklich. Die Vergangenheit hat gerade in Franzfelde versucht, mir den Hals umzudrehen. Bei Alma ist eingebrochen worden – und der Dackel Franz ist tot.

      Ich kam gerade dazu, habe einem der Gangster ein Ding verpasst und konnte mich mit dem Motorrad absetzen.«

      Der große Ulm schaute bei diesen Worten ungläubig und belustigt auf den Freund.

      »Alma ist, Gott sei Dank, bei meiner Ankunft für ein paar Tage weggefahren, sonst hätte sie sicher einen Herz-Kasper bekommen, oder Schlimmeres. Die Typen schienen zu allem fähig.«

      »Wer ist denn hier draußen hinter dir her?«, fragte Ulm, der nun den Ernst begriff, mit großen Augen.

      »Ich bin nicht sicher. Es hängt vermutlich mit einem Brief und Dokumenten aus Moskau zusammen, die ich nach dem Tod eines Freundes über einen Berliner Notar erhalten habe. Aber das ist eine lange Geschichte, die mit den Wende-Ereignissen zusammenhängt – die erzähle ich dir, wenn ich weiß, was da im Hintergrund läuft.«

      »Ja die Wende, das war so ein Ding mit Ansage von dir – und keiner hat es geglaubt – ein Jahr davor. Ich denke noch heute manchmal daran, wie du zum siebzigsten Geburtstag von Jo Jastram in seinem Bildhauer-Atelier zu später Stunde im kleinen Kreis darüber geredet hast. Die großen Augen des Westberliner Gastes, des späteren Kultursenators Roloff-Momin sehe ich heute noch leuchten.

      Du kamst gerade von so einem Bahnhofsprojekt in Dessau, mit Rolf Biebl von unserer Zunft, der immer so schöne Geschichten draufhatte, von den Kultur-Funktionären in Berlin und deren aktionistischer Ratlosigkeit.

      Der Kulturbetrieb war ja sehr verunsichert vom bleiernen Stillstand, der sich in diesem Herbst wie klebriger Nebel über alles legte – trotz Perestroika in der Sowjetunion.

      Da kamst du, wie ein Glühwürmchen im Dunkeln, und maltest ein Bild von dem Wandel, der im Gange sei und der folgerichtig zu einem europäischen Frieden, zum Abbau des Eisernen Vorhanges, zum Fall der Mauer und zu einer Deutschen Union führen würde.

      Die ungläubigen Gesichter sehe ich heute noch. Das war schon ein Ding damals! Ich glaube, wenn ich das ernster genommen hätte, wäre ich auf das, was dann kam, besser vorbereitet gewesen.«

      »Ja, das mag sein Ulm, aber die stete Entwertung akademisch gebildeter Kunst durch die Szene der Spekulanten wäre so oder so nicht aufzuhalten gewesen. Nun bestimmen die Herrscher der Börsen den Stellenwert von Kunst. Eigentlich war ich mit meinem Informationsvorsprung, ohne es zu wissen und wahrhaben zu wollen, in der Rolle einer Kassandra künftiger Verhältnisse in der Kunst, – bloß darauf hat damals niemand einen Gedanken verschwendet.

      Es ging ja vor allem um den Abbau von paranoiden militärischen Bedrohungs-Szenarien, den großen Frieden, eine demokratische Gesellschaft und eine neue wirtschaftliche Zusammenarbeit – dafür wurde die Europäische Perestroika entwickelt.«

      »Europäische Perestroika, davon habe ich noch nie gehört – was soll das sein?«

      »Das, Ulm, waren verdeckte Operationen der Militär-Geheimdienste in den Ostblock-Staaten, die den friedlichen Übergang und die neue Unabhängigkeit der Länder des Ostens sichern sollten. Jedenfalls verstehe ich das im Augenblick so, nach den Dokumenten, die mir ein verstorbener Freund, der maßgeblich beteiligt war, übermittelt hat. Konkretes weiß ich auch noch nicht und will es herausfinden. Wohl deshalb wollten die mir in Franzfelde an den Kragen. Wegen Alma werden sie nicht gekommen sein.

      Ich konnte in der Hektik der Attacke ja auch nicht fragen«, schnaufte Oie seine noch immer schnürende Spannung heraus.

      Ulm schaute halb belustigt halb ernst ob dieser spontanen Groß-Ereignisse in der schläfrig beschaulichen Ruhe der Provinz, spürte jedoch die Brisanz der Lage und brummte: »Wenn ich helfen kann sag es – aber lass uns erst mal was essen«, stand auf und schaute aus seinen kleinen, etwas hervorstehenden aber lustigen Augen auf ihn herab.

      Ulm trug wie immer Vollbart, aus dessen mittlerweile eisgrauem Gebüsch zuweilen Worte und Sätze wie Gewehrsalven hervorschießen konnten. Diese Art zu reden, und der fundamentale Anspruch seines Beitrages – nach langem, bedächtigem Schweigen – hatten schon damals die viel- und schönredenden, die Kunst verwaltenden Funktionäre und Parteibonzen verwirrt. Sein knielanger, grob-leinener Arbeitskittel, mit breitem Gürtel, gab ihm zudem schon in der alten Zeit den Habitus einer ehernen Tolstoischen Erscheinung, die dann, besonders durch seine ausgreifende Gestik, expressiv und dynamisch wirkte.

      Wie beständig sich doch der charaktervolle Mensch über die Jahre zeigt, freute sich Oie an Ulms Erscheinung – beständig wie eine alte Eiche.

      Umsprungen vom Pudel gingen sie zum Haupthaus, in dessen Küche schon ein großer Teller mit belegten Broten stand.

      »Hat Linde gemacht«, rückte Ulm das Geschirr zurecht. – »Sie ist schon um acht ins Bett, wie es bei ihr üblich ist.«

      Oie erinnerte sich bei Ulms Worten daran, dass das schon damals irgendwie als das Geheimnis ihrer marmorschönen Haut und inneren Strahlkraft galt.

      Schweigend saßen und aßen sie nebeneinander – und erst jetzt merkte Oie an seinem nachhaltigen Appetit, dass er seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte. Die Landbrot-Stullen mit Aal und Räucherfisch waren besonders gut.

      »Immer noch von dir?«, hob Oie ein duftendes Stück und sog den fantastischen Geruch von Räucherfisch ein.

      »Ist schon Tradition – ist besser und preiswerter als gekauft – obwohl man auch Aale jetzt in jedem Supermarkt bekommen kann.«

      »Ich erinnere mich«, lächelte Oie. »Du hast ja schon zu Ost-Zeiten die Buchenspäne eingesammelt, die bei unseren Holzplastiken abfielen.«

      Ulm brummte bestätigend: »Die vom Buchenholz sind für mich die Besten«, und schob dabei mit schwerer Hand ein kleines Stück Räucherkarpfen über die Tischkante. Als es auf den blau-weißen Boden gefallen war, stand Mephisto langsam auf, trabte zum Fisch und fraß ihn schmatzend auf. Dann leckte er die Fliesen und trollte sich wieder an seinen Platz im Korb neben der Tür. Als das so ein paar Mal gegangen war, fixierte Oie den Hund:

      »War der nicht mal schwarz?«

      »Na klar, im Osten war der Teufel schwarz. Jetzt haben wir Westen und da sind die Teufel weiß – oder sie tun so. Aber im Ernst, was denkst du, wie alt so ein Hund wird? Das ist sicher schon der Dritte, seit du fort bist – wir Menschen sind da einfach besser dran!«

      »Vielleicht ist so lange gar nicht gut, wenn man dafür drei kürzere Leben haben könnte«, provozierte Oie lächelnd.

      »Was soll das bringen? – Dann sind Gelassenheit und Weisheit ausverkauft, dann gibt’s doch nur noch Zeitgeist-Schwachsinn von immer fröhlichen, aufgedrehten jungen Leuten, wie in der Werbung. Ein fürchterlicher Gedanke!«

      Eine Weile war wieder Schweigen. Sie kauten und der Hund leckte sich schmatzend den letzten Duft von der Schnauze. Ulm goss noch einmal Kaffee ein und schüttete den großen Rest in eine Thermosflasche.

      »Feierabend!


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