Operation Ljutsch. Reinhard Otto Kranz

Operation Ljutsch - Reinhard Otto Kranz


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auf Franzfelde.

      Sie hatten das Gutshaus vor fast dreißig Jahren leerstehend übernommen. Es war einer dieser schönen Landsitze, inmitten von weitläufigen Feldern der Uckermark – zu weit abgelegen und zu groß, als dass irgendeine Gemeinde oder Landwirtschafts-Genossenschaft noch etwas damit hätte anfangen können. Die umliegenden Stallungen waren damals schon aufgegeben und ruinös. Solche überflüssigen, die Planerfüllung störenden, baulichen Altlasten wurden von den Bezirksregierungen an freiberufliche Künstler vergeben, die dann mit Sanierungs- und Denkmalpflege-Krediten unterstützt wurden.

      Schön war es inmitten der üppigen Natur auf dem Lande zu wohnen – aber es war einsam. Damals hatte Franzfelde noch eine Handvoll Einwohner und einen Schulbus für die Kinder. Nun lebte da keiner mehr – nur seine Ex.

      Das Gutshaus stand auf einem halbhohen, massiven Feldsteinsockel, unter dem sich ein Gewölbekeller verbarg, und hatte, bei neun Achsen, ein vorgesetztes Eingangsmittelrisalit über der Granittreppe. Bei imposant dicken Wänden war es eingeschossig gebaut, mit einem riesigen Krüppelwalmdach gedeckt, unter dem sich ein großer Wirtschaftsboden befand. Die Zimmer lagen dort oben an den Giebelseiten und am Sonnenbalkon über dem Portal.

      Im Hauptgeschoss schlossen sich links und rechts vom Vestibül zwei kleine Säle an, die zu Malzwecken genutzt wurden. Hier war auch der Ort für Ausstellungen und Sommer-Plein-Airs, wenn diese – wegen des Norddeutschen Wetters – im Saale stattfinden mussten. Das war die öffentliche Seite, die Galerie- und Süd-Westseite.

      Ein hoher Mittelflur trennte diese Raumflucht von der Rückseite und bot an den Enden Treppen ins Dachgeschoss zu den Giebelzimmern.

      An der Rückseite befand sich aktuell der eigentliche Wohntrakt, in den man sich in der kalten Jahreszeit zurückzog, mit untereinander verbundenen Wohnräumen und der Gutsküche, die einen direkten Zugang zum Hausgarten besaß, der Teil des Eichen umstandenen Parks war, und der nur in einem schmalen Ausläufer in den angrenzenden Buschwald überging.

      Im Park befand sich ein Weiher – einer dieser vielen kreisrunden Sölle, die Augen der Uckermark genannt werden – mit etwas Schilf und vielen Fröschen, wo in den Sommernächten unvergleichliche Konzerte stattfanden, die schon so manchem Gast den Schlaf raubten.

      Das Gutshaus war in dieser Form über hundertfünfzig Jahre alt und gehörte einst zu einem weitverzweigten Besitz der von Arnimschen Landgüter. Das war vor dem Krieg. Dann kamen die Flüchtlinge aus dem Osten. Fünfzig Personen sollen damals in den zwölf Räumen des Hauses gewohnt haben. Nun aber war Alma hier allein und eigentlich, so hörte man, froh, wenn mal wer vorbeikam. Im Sommer gab es regelmäßig lebendige Plein-Airs für Künstlerkollegen und Studenten – aber die tristen Landwinter waren lang.

      Vor allem in der neuen Zeit, da der hypertrophierte, offizielle Kunstbetrieb viele der seit Menschengedenken überlieferten und bis dahin gültigen Maßstäbe für künstlerische Qualität, beiseite gefegt hatte. Die Kunstversteher-Gazetten der Kunstmarkt-Mafia und ihrer Bild-Erklärer dominierten alles. Darunter litten besonders die bodenständigen Künstler, die sich bemühten, über die Beherrschung des künstlerischen Handwerkes, über Natur, Figur, Gegenstand und Raum zur Kunst zu finden. Auch Alma – das wusste er nur zu gut.

      Sie begrüßten sich, wie immer seit der Trennung, förmlich. Oie schwang Rucksack und Reisetasche über die Schulter und ging mit ihr ins Haus.

      Alma war schmal, klein und zart, aber immer wieder von einer verblüffenden Energie, wenn es um Malerei und Kunst überhaupt ging. Er schritt hinter ihr und wunderte sich, denn sie schlenkerte mit ihren Mittfünfziger Jahren immer noch die Arme wie ein junges Mädchen.

      Als sie durchs Foyer in der großen Gutsküche angekommen waren, wo sich der Hauptwohnbereich des Hauses befand, drehte sie sich schwungvoll um.

      Oie sah, dass ihre dunklen Augen noch etwas kleiner geworden waren, die Sorgen- und Lachfalten sich noch etwas tiefer einprägten und sich der Grauschleier der Jahre über ihr Haar zu legen begann.

      Eigentlich fühlte sich Oie, wie alle Besucher in der ländlichen Einsamkeit, willkommen und war umso erstaunter über die nun folgende Wendung: »Gut, dass du gerade jetzt kommst, Albrecht. Hier sind die Schlüssel. Deine ehemaligen Zimmer oben sind jetzt Gästezimmer und etwas verstaubt. Bitte gieß die Blumen und kümmere dich um die Tiere – ich werde einige Tage nicht hier sein.

      Nicht deinetwegen, das hatte ich dieser Tage sowieso vor.«

      Diesen eiligen Entschluss – so war er sich sicher – konnte sie erst nach seinem Anruf aus dem Auto gefasst haben, denn sie war allseits bekannt für ihre spontanen Wendungen. Nur fühlte sich Oie in diesem Augenblick ungemein festgenagelt und vereinnahmt.

      »Ach ja, und«, fügte sie ironisch lächelnd hinzu, »zu reparieren gibt es auch Einiges für den deutschen Ingenieur. Der Zettel liegt auf dem Schreibtisch in der Bibliothek.«

      Das war’s, das hatte er so nicht erwartet, aber eigentlich, wenn er genau überlegte, war es ihm recht. Er fürchtete ihr spitzes Schweigen, ihre spöttischen Fragen zu seinem, ihrer Meinung nach unsteten und unkünstlerischen Lebenswandel, an denen am Ende die Vorwürfe klebten, dass immer er die Ursache dafür gewesen sei, dass sie damals, als Künstlerin, mit sich und der Welt hier draußen nicht gleich klarkam.

      Für Oie aber, mit dem Blick von außen, kam sie klar. Schon damals, obwohl die Malerei die einsamste Berufung der Welt sein konnte, das wusste er. Sie lebte doch im Einklang mit der Natur, für ihre Kunst, – was wollte sie mehr?

      Nach einem gemeinsamen Kaffee beförderte er Alma mit ihrem Oldtimer-Geländewagen im Zuckeltrab nach Prenzlau zum Bahnhof. Danach fuhr er auf einigen Umwegen durch die kurzhüglige, sommerlich-prächtige Landschaft zurück und setzte sich in den Garten.

      Das Gezwitscher der Vögel klang wie sein Begrüßungskonzert, die Gerüche der Blumen im warmen Wind umzauberten ihn, und – das war nach so langer Zeit wieder neu – sie veränderten sich dabei mit dem Licht und den Temperaturen des Tages.

      Im trockenen Staub der Großstadt hatte er das lange nicht mehr so wahrgenommen. Es behagte ihm, dem vom Bauernjungen zum Stadtindianer Konvertierten, der sonst zu oft von der gleichen Mischung aus Auto, Schmutz und Hund umweht wurde, auf besondere Weise.

      Gegen Abend fürchtete er, aus der Idylle gerissen zu werden und schaltete sein Funktelefon aus. Er fütterte erst die Kaninchen, den Hund und den Kater, – dann sich.

      Nachdem er den Staub des Zimmers halbwegs beseitigt hatte, ging er, wie auf dem Lande üblich, mit der untergehenden Sonne schlafen.

      In der Nacht weckte ihn ein schweres Gewitter, das den Eichensaum des Parks wie Brandung brausen ließ und die vielstimmig säuselnden Geister des Windes unter dem großen Dachstuhl, wo sich sein Zimmer befand, zum Chor formte. Den Kontrapunkt in dieser gewaltigen Natur-Symphonie setzte der große Mantel-Kamin des Hauses, der sich neben seinem Bett befand. Mit seinem sanft-brummigen Dröhnen, unterbrochen vom Blitz-Donner-Stakkato, klang er wie eine Antwort auf das auf- und abbrausende Rauschen der Bäume.

      Diese urwüchsigen Gewitter-Stimmen der Natur, die seinen Kindern damals unheimlich waren – ihm waren sie jetzt ein Seelen-Balsam.Jetzt war es gut so, denn er war absolut leer. Sein Gehirn war zu keinen zusammenhängenden Gedanken fähig, so berührte und beschäftigte ihn der Brief Igor Antonows – vor allem der erschütternde Blick auf das Schicksal seines Bruders.

      Er atmete sich zur Ruhe und schlief wieder ein.

      In seinen Gewitter-Träumen befand er sich auf einer riesigen, hölzern-wackligen Achterbahn. Steil aufsteigend, dem Himmel zurasend – ohne zu wissen, wie es hinter dem Gipfel weitergeht. Dann der Blick in den Abgrund, weiter beschleunigend, in die Kurve brausend und wieder steil in den Himmel.

      Mit einem gewaltigen Donnerschlag erwacht, hatte er das Gefühl, eben Geträumtes – wie ein fremd gesteuerter Kamikaze-Flug – könne da draußen auf ihn warten.

      Das verunsicherte Oie, denn eigentlich suchte er Ruhe, war er hier, weil ihm in Sachen Antonow so keine Idee kam, er aber aus Lebenserfahrung wusste, dass man die Dinge mit Geduld sacken lassen muss, um Klarheit zu gewinnen und einen tragfähigen


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