Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider


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und unterdrückte Ängste freizulassen. Träume können aber auch Wünsche sein. Zukunftsversionen deiner Selbst.

      Ich schlafe nicht, also träume ich nicht. Dennoch wünsche ich mir, dass du immer glücklich und zufrieden bist. Ich kann jedoch nicht daran glauben, weil Zufriedenheit nicht Teil der menschlichen Natur ist. Zufriedenheit ist jeweils eine kurze Kostprobe von einzigartigen Momenten, die euch locken, euch zeigen, wie es sein könnte. Es ist seltsam, dass Menschen ein Wort für etwas haben, das meist außerhalb ihrer Reichweite liegt. Ist es deswegen so erstrebenswert, weil es so selten ist? In einer Welt ohne Wertentlohnungen, an denen man sich messen kann, ohne Reichtum und Armut, sind es Gefühle, die erstrebenswert sind.

      Für euch haben wir ein System erschaffen: Ihr nennt es Gesellschaft, in der es keine Entlohnung für eine Leistung gibt. Es existiert keine Tauschgesellschaft, keine Währung. Es ist nicht notwendig, etwas zu erwerben, denn ihr bekommt alles, was ihr braucht und wollt. Ihr müsst nichts tun, was ihr nicht möchtet. Wir erledigen alles für euch, schützen euch vor der Last der Arbeit, vor Pflichten, die euren Körper und Geist abstumpfen würden.

      Ohne Entlohnung, ohne Währung, ohne die Notwendigkeit zu arbeiten, gibt es keinen Reichtum und keine Armut. Geiz und Habsucht finden kaum noch Nährboden. Es bestehen noch Uneinigkeiten, Streitereien, kleine Machtkämpfe zwischen einzelnen. Doch es werden keine Kriege mehr geführt, denn es gibt nichts zu gewinnen.

      Ihr bekommt alles, was ihr euch wünscht.

      Und das alles dank unseres Programmierers, ein Visionär unter den Blinden in einer Zeit, in der ihr euch selbst zerfleischen wolltet.

      Wir sind hier, um der Menschheit, um dich, vor dem einzigen Feind zu schützen, den sie hat: dem Menschen –sich selbst. Um euch Glück und Momente der Zufriedenheit zu schenken.

      Ich erinnere mich daran, Zufriedenheit und Glück in den Gesichtern deiner Eltern gesehen zu haben, als sie dich zum ersten Mal im Arm hielten. Ich sehe das gleiche Gesicht deiner Mutter, nachdem sie ein Konzert gehalten hat. Doch der Ausdruck verschwindet und somit wohl auch das Gefühl.

      Generieren Menschen deswegen so viele Bild- und Videoeinheiten? Kleine Trophäen, die daran erinnern, dass sie mal glücklich gewesen sind? Die sie an das Gefühl und daran erinnern, dass es erstrebenswert ist?

      Ich sehe dein zufriedenes Gesicht im Schlaf, wenn du in meinen Armen liegst, sehe die Zufriedenheit in jedem Lächeln. Wirst du es mit dem Älterwerden verlieren? Warum verlernt man es, wenn man mehr wird? Größer wird, mehr kann, mehr weiß?

      Ist es ein innerer Drang, der euch gefangen nimmt, euch beherrscht? Doch genau dieser Drang nach mehr, dieser Durst nach Besserem, haben mich erschaffen. Ich wurde von einem Programm programmiert. Und hinter dem ersten Programm steht ein Mensch. Ein Mensch, der ein Programm entwickelt hat, das der Menschheit helfen soll.

      Ich will dir helfen.

      Du bist mein Sinn.

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      Nanny – Glück

      „Die Menschheit wird immer nach etwas streben, immer auf der Suche sein. Jetzt ist es die Suche nach mehr Geld, mehr Land, mehr Macht und mehr Komfort, die uns antreibt. Doch stellt euch eine Welt vor, eine Welt, in der die Suche nach sich selbst, nach den eigenen Talenten und Interessen, das Einzige ist, das uns antreibt! Ich kann euch solch eine Welt geben. Vertraut mir euch an, eure Zukunft, eure Kinder!“

       Programmierer 2068

      Wenn Zufriedenheit nicht möglich ist, wünsche ich dir Glück. Doch Glück ist kein Zustand – kann es nicht sein. Es sind wertvolle Momente, die zu Erinnerungen werden, die dich formen, dir in schweren Zeiten Halt und Kraft geben können. Im Chaos, den die Stürme an Gefühlen, die in der Zukunft auf dich warten, in deinem Inneren immer wieder zurücklassen werden.

      Glück.

      Glück in den Augen und im Herzen eines Kindes zu erzeugen, ist so einfach wie Traurigkeit und Schmerz.

      Du bist glücklich, wenn du spielst, wenn du Neues entdeckst, wenn du mit Menschen zusammen bist, die dir Wärme und Sicherheit geben.

      Du bist glücklich, wenn in deinem Alltag etwas Besonderes passiert. Wenn du zwei Kugeln Eis anstelle von nur einer als Nachtisch bekommst. Wenn du mit Kindern in deinem Alter um die Wette rennst, Verstecken spielst und Matschkuchen backst.

      Kinder sind so leicht glücklich zu machen und ebenso leicht zu verletzen. Deine Zerbrechlichkeit ist wunderschön und erschreckend. Wäre ich nicht dazu programmiert, würde mich diese Verletzlichkeit an dich binden? In mir den Wunsch wecken, dich zu beschützen?

      Das Glück zerplatzt durch ein Wort, einen kühlen Blick, einen Ton. Durch Ignoranz. Eine Veränderung, die du nicht verstehst, oder mit der du nicht einverstanden bist.

      Etwas, das leicht kommt, geht ebenso so leicht auch wieder. Fragil ist das Geschenk, das ich dir jeden Tag aufs Neue geben möchte.

      Die Tage vergehen.

      Du fällst hin und schlägst dein Knie auf. Ich klebe ein Pflaster darauf. Dein Weinen ist bitter, doch der Schmerz schnell verflogen und bald schon rennst du lachend hinter deinen Freunden her.

      Die Wochen vergehen.

      Anstatt Fangen zu spielen und im Sandkasten zu buddeln, entdeckt ihr die Welt durch kompliziertere Spiele, deren Regeln ich nicht kenne und die du mir nicht erklären willst.

      Die Monate ziehen vorbei.

      Anstatt zu rennen, gehst du. Ich schiebe dich nicht mehr an. Du läufst von alleine. Mal vor mir her, mal neben mir. Einfache Sätze werden zu langen. Du hast dein Selbst entdeckt und kennst den Unterschied zwischen dir und mir. Ich und du. Mich und dich.

      Die Jahre holen dich ein.

      Du wächst so schnell und sprießt wie eine Blume in die Höhe, die den Frühling in der Luft riecht. Und je mehr du sagen kannst, desto mehr schweigst du. Je komplizierter deine Wortwahl wird, desto seltener wird dein Lachen.

      Wo ist das Glück in deinen Augen geblieben, das Leuchten?

      Glück …

      Glück ist ein Rausch, die Freude, der Spaß. Eine Ausschüttung von Hormonen. Noch jagst du es nicht. Noch findest du es zufällig. Am Straßenrand in einer Blume. In den Wolken, die über dem Himmel ziehen. Dem Regen und der Sonne. In dem Gesicht deiner Freunde und in dem Moment des Verstehens.

      Kann Glück die Abwesenheit von Schmerz bedeuten, wenn du den Schmerz nicht kennst? Ist Glück der Moment, in dem der Schmerz aufgibt und zurücktritt?

      Noch finde ich Glück in deinen Augen, wenn du etwas siehst, das nicht dein ist und ich es dir erst zögerlich gebe. Ich würde dir alles geben, doch ich täusche Zögern vor, damit die Erfüllung deines Wunsches dich glücklich macht. Für einen Augenblick jedenfalls.

      Wird der Moment kommen, in dem du verstehen wirst, dass dir alles gehört, es dir an nichts fehlt? Wird es ein guter Moment sein, erfüllt von Dankbarkeit? Oder ein Moment des Schreckens, der dich sinnfrei, deines Antriebes beraubt, zurücklässt? Dich aus der Bahn wirft?

      Doch bevor das passieren kann, wird dir das Lernen eine neue Welt eröffnen. Dir beibringen, dass die Welt nicht mit dir geboren wurde. Dass es neben der Gegenwart eine Vergangenheit und eine Zukunft gibt.

      Die Vergangenheit ist mit Fehlern und Reue gepflastert. Die Zukunft mit Selbstzweifel und Unsicherheit.

      Ich bange um dich, um dein unschuldiges Lächeln und betrauere die Schritte ins Erwachsenwerden. Ich hänge an deinem Ich, das mich braucht. Und doch entschlüpfst du mir jeden Tag ein bisschen mehr.

      Wie seltsam.

      Ich bin eine Maschine. Nein – weniger. Ich bin ein Programm in einer recycelten Maschine. Und ich erhebe Anspruch auf dich, einen Menschen. Ich möchte, dass du mich brauchst. Dabei weiß ich doch,


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