3 Tage im Juli. Thomas Pfanner
Katastrophen und andere Belanglosigkeiten
Perspektiven an einem Ort ohne Perspektive
Drei Tage im Heim
Thomas Pfanner
Katastrophen und andere Belanglosigkeiten
So schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt. Ich habe in den letzten Wochen reichlich Erfahrung mit schlimmen Dingen machen dürfen, von daher erlaubte ich mir gestern abend zur Abwechslung eine optimistische Einschätzung. Wie das eben so ist mit optimistischen Einschätzungen. Besonders, wenn sie von mir kommen. Ich bin in diesem verbiesterten Land vermutlich der einzige Kerl, dessen optimistische Einschätzungen sich am nächsten Tag immer und überall bewahrheitet haben. Und ganz sicher bin ich auf diesem verfluchten Planeten der einzige Kerl, der diese Gewissheit mit penetranter Ignoranz aus seinen Gedanken verbannt. Genauso gut könnte ich abends mit dem Vorhaben einschlafen, am nächsten Tag mit dem Auto zu fahren, wohl wissend, dass er bereits vor Wochen gestohlen wurde. Aber so bin ich eben: Hoch intelligent und völlig verblödet. Wobei die Einschätzung meiner Intelligenz nicht von mir kommt, sondern von einem Psychologen. Das erhöht den Grad der Gewissheit nicht übermäßig, lenkt aber von meinem eigentlichen Problem ab. Ich hätte es wissen müssen. Ich mache mir über alles und jedes Gedanken, ich plane jeden meiner Schritte und beleuchte jedes meiner Worte von verschiedenen Seiten, bevor ich es ausspreche. Mich hat dieser Aufwand wahnsinnig weit gebracht. So weit, dass ich vor ein paar Wochen ernsthaft über die Ausrüstungsgegenstände grübelte, die ich für ein Leben unter der Brücke benötigen würde. Auch diese Überlegungen erübrigten sich letzten Endes, wenn auch denkbar knapp. Dieses Leben hier kommt mir aber nicht wirklich besser vor. Unter der Brücke kann man immerhin ausschlafen. Aber wahrscheinlich irre ich auch in diesem Punkt.
Ich komme immer mehr vom Hölzchen aufs Stöckchen. Eigentlich wollte ich über meine unendliche Dämlichkeit nachdenken, diesen Augenblick nicht bedacht zu haben. Jeder Brüllaffe wäre schlauer gewesen. Ich bin kein Affe und ich brülle nie. Zwei Gründe, warum ein Brüllaffe schlauer ist als ich. Ich schlage mir die flache Hand vors Hirn, um mich geistig wieder einzufangen. Ich darf nicht so dämlich sein, über meine Dämlichkeit nachzudenken. Dieses eine Mal nicht. Ich verzettele mich in den unendlichen Hallen meines Denkapparates. Der Hauptgrund mag an der unendlichen Leere dieser Hallen liegen. Dieser Psychologe hat die Größe der Hallen vermessen und daraus auf meine Intelligenz geschlossen. Der Inhalt war ihm egal. Zu mühsam, nach ihm zu suchen. Ich finde die Tür, durch die ich meinen Gedanken entfliehen kann. Ich öffne die Augen.
Es ist hell. Sehr hell. Wieso zwitschern diese vielen Vögel so laut? Wer hat ihnen den Tipp gegeben, wo sie mich finden können? Ich schlage die Decke weg und stehe auf. Meine verquollenen Augen geben nach reichlich Bearbeitung mit den Handrücken erstaunlich viel Gebrösel her. Die Nase auch. Mein Magen knurrt wütend. Dieses Gefühl hat er mir seit den Tagen in der Bundeswehr nicht mehr gegeben: quälender Hunger, gepaart mit der erklärten Unlust, Nahrung aufzunehmen. Warum sollte ein Magen auch weniger widersprüchlich sein als sein Besitzer? Ich bin bedient. Das war ich schon vorher, nun aber bin ich mir absolut sicher, dass jede einzelne Minute des Tages schrecklich sein wird. Die letzten Wochen waren schrecklich, der heutige Tag wird sicher so eine Art krönender Abschluß sein. Aber soweit will selbst ich nicht in die Zukunft sehen. Sicherlich könnte ich das, ich bin ja Profi in Sachen sinnloser Planung. Ich lasse es einfach. Ohne Zukunft kann man auch keine planen. Selbst ich nicht.
Nachdem ich es über mich gebracht habe, das Zimmer zwecks Orientierung genauer zu betrachten, watschele ich krumm und lustlos zu dem schäbigen Waschbecken. Eine Drehung des einzigen Drehkranzes aus verblichenem Messing beschert mir außer einem gequälten Quitschen einen dünnen Strom eiskalten Wassers. Ich werfe mir mit hohlen Händen etwas davon ins Gesicht. Anschließend bringe ich es fertig, mich mit Hilfe eines abgewetzten Rasierers, etwas Schaum und besagtem kalten Wasser zu rasieren. Wie immer gelingt es mir nicht, wirklich sorgfältig zu sein. Die Stoppeln auf der rechten Gesichtshälfte grinsen mich beinahe unversehrt an. Dafür sind auf der linken Seite alle komplett verschwunden, mit ihnen leider auch Teile der Haut. Mit dem Handtuch wische und drücke ich eine Weile, bis kein neues Blut mehr aus den Kratzern quillt. Ich überlege halbherzig, ob ich neben dem Schnurrbart noch weitere Teile meines Gesichtes überwachsen lassen soll. Ich habe das schon einmal ausprobiert. Die Bartflechte hat mich fast aufgefressen. Also werde ich auch diesmal darauf verzichten. Wieder so eine sinnlose Überlegung. Diese allein wälze ich jede Woche drei Mal. Ich bin sehr beschäftigt, wenngleich immer ohne Ergebnis.
Ächzend streife ich mir die Kleidung über, ein wenig Unterwäsche, Jeans und Sweat-Shirt, Turnschuhe, fertig. Nun kann ich mich um meinen Magen kümmern. Ich schließe sorgfältig mein Zimmer ab und schlurfe langsam die Treppe hinauf. Die alten Eichenbohlen knirschen und jammern beinahe ebenso intensiv wie meine Knochen. Ich bin hundemüde. Das ist es, was ich hätte bedenken müssen. Ein Kerl wie ich, daran gewöhnt, morgens nicht vor 8.00 Uhr aufzustehen, ist einfach nicht in der Lage, wie ein junger Gott aus den Federn zu springen, wenn die Uhr erst 5.20 Uhr anzeigt. Das zwingt mich in die Knie und macht meinen Magen zum Feind. In der winzigen fensterlosen Küche suche ich umständlich nach dem Wasserkocher und dann mache ich mir so etwas wie ein Frühstück. Nach wenigen Minuten ist alles so weit vorbereitet, dass ich beginnen kann. Das Ritual kenne ich bereits. Bei der Bundeswehr lief das auch so ab. Eine große Scheibe Brot mit Nutella und ein großer Becher heißer Muckefuck. Ein Schluck dieses Kaffeersatzes bringt meinen Magen dazu, sich für einen Augenblick gnädig zu zeigen. Diesen Augenblick nutze ich, um ihm einen Bissen Brot zu schicken, den er auch tatsächlich bei sich behält. Zur Sicherheit lenke ich mich und ihn mit ein paar Betrachtungen ab. Um mich herum glänzt der modrige Charme der sechziger Jahre. Mit Kunststoff überzogene Holzmöbel um mich herum, wackelig und ein unbeachtetes Leben ohne Wartung hinter sich wie der Schemel, auf dem ich sitze. Den Tisch habe ich in dieser Art schon in alten Filmen gesehen. Solange man nicht wirklich davor sitzen muss, ist so ein Teil recht amüsant. Ich schaue mir den Wasserkocher genauer an. Der Stecker, ja, das muss Bakelit sein. Das Zeug, aus dem die alten Telefone gemacht wurden, die ganz alten Telefone, deren Schnur mit Stoff ummantelt war. Vielleicht sollte ich meine Betrachtungen einstellen, sonst komme ich unweigerlich an den Punkt, an dem ich mir über den Rost ernsthafte Gedanken mache. Und die Frage, ob der rötliche Rostfraß einen tödlichen Stromstoß verursachen wird, bevor mich die in den Muckefuck abgegebenen Splitter vergiftet haben, oder ob das ganze Ding einfach eines Tages auseinanderfallen wird. Ich verfüge über keinerlei Erfahrungswerte. Ich wohne erst seit vorgestern hier.
Brot und Muckefuck sind gleichzeitig zu Ende und als Andenken bleibt mir ein Gefühl, als hätte ich meinen Magen gerade mit einer halben Sau vollgestopft. Ich bin begeistert. Nun fühle ich mich noch mehr wie gerädert. Die Müdigkeit steigert sich, weil alles Blut zur Verdauung aus meinem Gehirn und meinen Beinen abgezogen wird. Und dabei muss ich mich beeilen. Die Bahn wartet nicht. Also schleppe ich mich zu einem kurzen Abstecher aufs Klo. Passenderweise befindet sich dieses direkt neben der Küche. Die Erbauer hatten wohl ein Herz für die armen Menschen, die sich mit bescheidenen Kochkünsten und untauglichem Gerät an verdorbenen Nahrungsmitteln versuchen. Diese Spezies lebt bevorzugt in abgewrackten Jugendstil-Villen wie dieser. Das Klo ist nachträglich eingebaut worden, dem Zustand der Holzverkleidung nach zu urteilen Ende der Sechziger. Beim Öffnen des Verschlages überwältigt mich die High-Tech dieses Ortes. Das Licht flammt