3 Tage im Juli. Thomas Pfanner
Verschlag, angefüllt mit Spinden. Er öffnet einen davon.
»Hier kannst du dein Zeug rein tun. Ich warte draußen.«
In dem Verschlag riecht es nach kaltem Schweiß. Und jede Menge Parfüm in einer wilden Mischung der unterschiedlichsten Sorten. Der mir zugewiesene Spind erfreut mich mit zentimeterdickem Staub. Der letzte Praktikant muss vor mindestens einem Jahr seinen Platz geräumt haben. Vermutlich ging es deshalb so schnell mit der Zusage. Was ist das für ein Job, auf den sich nur alle Jubeljahre mal ein einsamer Versager bewirbt? Hastig hole ich meine Ausrüstung aus dem kleinen Beutel, den ich am Handgelenk trage. Eine Art Sweatshirt mit Taschen, vom Verkäufer >Kasack< genannt, sowie ein Paar Sandalen mit ausgeformten Fußbett und einem Profil, als gelte es, die Alpen zu ersteigen. Das dieses Schuhwerk für diese Stelle als Ausrüstung gefordert wird, läßt auf hohe Laufleistungen schließen. Na ja, laufen kann ich wenigstens, daran soll es nicht liegen. Rasch trete ich in meiner neuen Pracht wieder vor die Tür. Erhard mustert mich kurz. Eine Art nachsichtiges Mitleid scheint aus seinen Augen zu sprechen. Der Augenblick geht vorbei, er drückt mir etwas kaltes, metallisches in die Hand.
»So, ich werde dich jetzt einarbeiten. Du gehst einfach mal mit und siehst dir an, wie ich das mache. Ist nicht so schwer, wirst schon sehen.«
Da bin ich entschieden anderer Meinung. Da ihn meine Meinung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wirklich interessieren wird, halte ich den Mund und folge ihm. Dabei betrachte ich das Ding in meiner Hand. Eine Schüssel aus Stahl, genau in der Form einer Salatschüssel. Da Salatschüsseln in der Regel auf Frauenpartys gekauft werden und aus Plastik gefertigt sind, wird es wohl mit dieser Schüssel etwas anderes auf sich haben. An dieser hier ist auch ein sehr belastbarer Griff angeschweißt, viel zu massiv für Salat. Erhard geht in einen anderen Raum. Eine Wäschekammer oder so etwas, voller Regale mit Wäsche aller Art, der restliche Raum mit merkwürdigen Gestellen auf Rollen vollgepfropft, in denen Säcke hängen, mal aus Stoff in verschiedenen Farben, mal aus blauem Plastik. Erhard gibt den Kommentar dazu ab, ruhig, fast gleichgültig spricht er, als ob er beim Hörfunk die Kulturnachrichten bekannt geben müßte: »So, hier holen wir uns Handtücher und Waschlappen. Damit gehen wir dann aufs Zimmer. Wenn wir fertig sind, werfen wir die gebrauchten Sachen in die Säcke. Jedes Teil in einen anderen Sack. Ist wegen der Hygiene. Braun für Unterwäsche, blau für Bettwäsche, Grün für Oberbekleidung. Müll und Windeln in den blauen Plastiksack.«
Er sagt das so, als ob er das alles nicht richtig ernst nimmt. Sein Gesicht lächelt dabei aber nicht, vielleicht habe ich mich ja auch verhört. Im allgemeinen verstehe ich nichts von Frauen, von Männern verstehe ich aber auch öfters nichts. Von diesem Laden hier verstehe ich bislang ebenso wenig wie von Frauen. Am meisten wundert mich, dass ich hier geduzt werde. Niemand duzt mich, außer drei oder vier Leuten. Meine Freunde duzen mich, reden mich aber mit dem Nachnamen an. Ich kann nicht nachvollziehen, aus welchen Gründen sich wildfremde Menschen mit >Du< ansprechen. Mir ist das so fremd wie der Gruß der Vulkanier. Es erzeugt in mir kein Gefühl der Nähe, falls man das zu diesem Zweck hier handhaben sollte. Eher ein gewissen Mißtrauen. So ähnlich wie bei dem Bettler, der mit der Vertraulichkeit in dem Satz >hast Du mal ne Mark< etwas erreichen will, was der Angesprochene eigentlich vermeiden wollte.
Ich erwache aus dem Nebel meiner wie üblich nutzlosen Überlegungen. Erhard ist in die hinterste Ecke des langen Flures marschiert, dort wo das Tageslicht vermutlich nie hinkommt. Er öffnet die letzte Tür auf der dem Treppenhaus entgegen gesetzten Seite und verschwindet darin. Mir bleibt ein kurzer Blick auf ein Landratsamt-Schild neben der Tür. Das kleine viereckige Schild birgt zwei dünne Rinnen, in die man Papierstreifen einziehen kann. Auf diesen Streifen stehen Namen.
Frau Leute
Frau Mager
Dann bin ich durch die Tür und sehe etwas, was ich nie zuvor gesehen habe. Das, wovor ich Angst gehabt habe. Mein neues Arbeitsfeld. Auf den ersten Blick wirkt alles ganz friedlich. Bis ich dann einatme. Unbeschreiblich. So muss es riechen, kurz bevor die Insassen eines Atombunkers zum ersten Mal nach langen Jahren lüften. Wobei diese Insassen hier vor mir noch ein Problem mit der Dichtigkeit zu haben scheinen. Es riecht nach Schweiß, nach Urin und nach Schlimmerem. Vor allem aber riecht es ... alt. Dieser Geruch löst ein Deja Vu bei mir aus. So hat meine Urgroßmutter gerochen. Unmittelbar vor ihrem Tod verlief ich mich als fünf Jahre alter Unruhestifter in ihr Zimmer. Da roch es so undefinierbar gräßlich. Seit damals habe ich diesen Geruch mit dem Nahen des Todes gleichgesetzt. Einen kurzen Augenblick lang überfällt mich die Vorstellung, auch hier würde der eine oder andere Tote liegen, vielleicht noch nicht ganz tot, aber auf dem besten Wege. Ein Blick auf Erhard beruhigt mich sogleich. Der Pfleger spaziert gelassen zum Fenster, zieht die Vorhänge beiseite und öffnet einen Flügel ein Stück weit. Das hierdurch verstärkt einfallende Tageslicht ermöglicht mir einen klaren Blick auf das Innenleben dieses Zimmers. Ein relativ schmaler und langer Raum, ziemlich vollgestellt und dadurch kleiner wirkend, als er sein mag. Die Wände ebenso leer wie ihre Pendants im Flur, das gleiche Linoleum auf dem Boden, wenngleich deutlich schmuddeliger. Dunkles grün wirkt nicht so leicht verdreckt, so das mich der fleckige Anblick doch erstaunt. Zum Glück vermag ich nicht übermäßig viel von dem Boden zu erkennen. Im Raum stehen nämlich zwei Betten und zwischen den Betten noch zwei kleine Tische. Die Betten sind mit etwas Abstand nebeneinander quer im Raum aufgestellt. Auf der anderen Seite steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, eine Anrichte und darauf ein uralter Fernseher. Fasziniert bestaune ich kurz das Gerät, das statt der heute üblichen Sensortasten noch über solide Rasten verfügt. Zwischen Betten und Tisch bleibt kaum Platz, um hindurch zu gehen. Erhard hat es immerhin geschafft.
Ich schaue mich weiter um und dann erkenne ich, was hier fehlt: es existiert keine Toilette. Nur ein Waschbecken hängt an der Wand neben der Tür, in der gleichen zweifelhaften Qualität wie dasjenige im Aufenthaltsraum. Den letzten Rest an Platz verbraucht der Einbauschrank, der den Raum zwischen Waschbecken und dem Ende der Wand einnimmt. Er ist für sich betrachtet schon reichlich häßlich, der anhaftende Charme der Siebziger inklusive intensiver Gebrauchsspuren verstärkt den Eindruck, stilistisch in keiner Weise zum Rest den Interieurs zu passen. Auf der anderen Seite dann noch das Fenster in Standardgröße: das ist alles. Soweit besteht kaum ein Unterschied zu einem Krankenhaus, wenn auch zu einem sehr alten Krankenhaus. Ich wundere mich etwas, von draußen erschien der Bau doch wesentlich frischer und jünger. Ich werde aus meinen Betrachtungen gerissen, Erhard gibt mir die Anweisung, die Schüssel in meiner Hand mit Wasser zu füllen. Ich tue mein Bestes. Das Waschbecken nicht. Aus dem Hahn quillt kaltes Wasser, eiskaltes Wasser, ohne jede Aussicht auf Änderung. In meinem Rücken rumort Erhard mit undefinierbaren Sachen herum, dann sehe ich ihn an mir vorbei den Raum verlassen. Er hat irgendetwas in der Hand, was ich nicht deuten kann. Kurz darauf ist er zurück und erkundigt sich nach der Waschschüssel. Der Kran gibt immer noch nur kaltes Wasser her. Erhard bedeutet mir, meine Versuche einzustellen und nimmt mir die halb volle Schüssel mit klarem kalten Wasser ab. In seinem leicht dahin gesagten Tonfall brummt er: »Hier gibt es kein warmes Wasser. Nicht vor 9.00 Uhr. Macht auch nichts. Was für Bier gut ist, ist auch für Menschen gut.«
Er griemelt vor sich hin, als ob er einen guten Witz gerissen hätte und stellt die Schüssel auf das Beistelltischchen neben dem ersten Bett. Ein wenig klamm im Kopf trete ich an der anderen Seite dazu. Jetzt also geht es um die eigentlich wichtige Sache in diesem Raum. Die alten Leute. Alle Betrachtungen dienten ja nur der Ablenkung, wie immer. Vorbei. Nun betrachte ich die Frau in diesem Bett. Unter der Decke schaut nur das Gesicht hervor, ein altes, uraltes Gesicht. Weiße Haare waren zu erwarten gewesen, aber das so viele Falten in ein Gesicht passen, hätte ich nicht vermutet. Dazu verstärkt noch die Haut, die wie Pergament gefärbt ist und auch ein wenig durchscheinend wirkt, den Eindruck, dass womöglich nicht mehr allzu viel Leben in dieser Frau verweilt. Erhard stört das nicht. Er tätschelt sie sachte auf die Wange, die Hand ist um einiges größer als der Kopf.
»Magerli, wach auch, der Viertel ist da.«
Die Frau stöhnt laut auf, öffnet die Augen und sieht sich verwirrt um. Ihr Gesicht will einen weinerlichen Ausdruck annehmen, doch der Pfleger verhindert es, indem er seine riesige Hand an ihre Wange legt, sich zu ihr herunterbeugt und sanft, aber doch drängend weiterspricht: »Komm, Magerli, nicht schlimm, gar nicht schlimm, ein bißchen waschen, frisch machen, dann fühlst dich wohl und kannst in Ruhe dein