Allein. Florian Wächter

Allein - Florian Wächter


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sie sich ein, dass die Kristalle kaum wahrnehmbar ihren Namen flüsterten.

      Juliaaa ... Juliaaa!

      Sie musste einen davon haben! Ihr ganzes Wesen konzentrierte sich auf diese fixe Idee, doch so sehr sie ihre kindliche Fantasie auch bemühte, konnte sie sich nicht vorstellen, wie sie das ohne Geld bewerkstelligen sollte. So musste sie sich fürs Erste damit begnügten, diese magischen Steine nur zu betrachten. Niemand in dem Heim, von dem sie wieder einmal ausgerissen war, würde sie wirklich vermissen oder sich vor Kummer die Augen ausweinen, auch wenn sie den ganzen Tag hier verbringen sollte.

      Sie erschrak, als sie bemerkte, dass plötzlich jemand neben ihr stand. Dieser Jemand hatte sich förmlich neben ihr von einem Moment auf den anderen materialisiert. Sie blickte mit großen Augen an einem hellblauen Träger-Kleid empor. Die attraktive Frau, die darin steckte, hatte langes, dunkelbraunes Haar, in der gleichen Länge und Tönung wie das von Julia.

      Wie sie selbst zuvor, ließ sich auch die Dame von den hübschen, bunten Ausstellungsstücken verführen, wobei ihr Hauptaugenmerk den Halsketten mit den Halbedelsteinen galt. Als sie alles im Schaufenster begutachtet hatte, zwinkerte sie dem kleinen Mädchen an ihrer Seite lächelnd zu und umrundete Julia, in der Absicht das Geschäft zu betreten. Noch bevor sie wusste, was sie tat, schloss sie sich der Frau an und trat dicht hinter ihr über die Schwelle, dabei bemerkte Julia, dass diese einen angenehm fruchtigen Duft verströmte. Es handelte sich bei der Kundin zwar nicht wirklich um ihre Mutter, doch der Verkäufer sollte denken, dass die beiden zusammengehörten, das verschaffte ihr die Möglichkeit hinein zu gelangen, ohne den Argwohn des Mannes zu wecken.

      Und genau das war es auch, was Artur dachte, als er beim Klingeln des Glöckchens von dem Katalog, in dem er gerade geblättert hatte, aufblickte und diese Frau sah und das Mädchen, das hinterher trottete, als ob die Nabelschnur noch nicht zur Gänze durchtrennt worden wäre. Die Schönheit in dem hellblauen Kleid steuerte auf die Theke zu und grüßte freundlich.

      „Grüß Gott!“, erwiderte Artur geschäftsmäßig. „Was kann ich für sie tun?“ Er nickte der Tochter in dem langärmeligen Sommerkleidchen, das schüchtern an der Tür stehen geblieben war, nur kurz zu und widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder der Erwachsenen.

      „Ja, ich interessiere mich für ...“, begann die Frau mit einer weichen, tiefen Stimme zu sprechen und zog Artur mit ihren großen, dunklen Augen in ihren Bann.

      Julia hatte auf diesen Augenblick gewartet. Sie schlich, Langeweile vortäuschend, vorsichtig zu der Stelle, an der die Bergkristalle ausgestellt waren. Als sie in Griffweite lagen, drehte sie sich um und bemerkte, wie sich der Verkäufer gerade hinter der Theke bückte, um etwas aus einer Lade zu holen. Die Dame in Blau lehnte sich mit einem Ellenbogen auf den Ladentisch, während sie mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf etwas zeigte, das Julia nicht sehen konnte. Das lange braune Haar verdeckte das Gesicht der Kundin, somit konnte sie unmöglich sehen, was Julia machte. Diese griff blitzschnell nach einer der Bergkristallnadeln und schob den Stein hastig in den Ärmel ihres Kleides. Die Kristallspitze war so lang wie ihr Oberarm. Sie klemmte die Spitze in der Achselhöhle fest und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann drehte sie sich um und beobachtete die beiden Erwachsenen.

      Der Verkäufer tauchte gerade hinter dem Ladentisch wieder auf und legte drei weitere Halsketten zu einer vierten dazu, die schon auf dem Tisch lag. Die Frau strich ihr Haar aus dem Gesicht und griff nach einer der Ketten.

      „Da haben Sie eine hervorragende Wahl getroffen“, setzte der Mann das Verkaufsgespräch fort. „Diese hier zeichnet sich durch ein besonders intensives Blau aus und bei den goldenen Punkten handelt es sich um Pyriteinschlüsse.“

      „Ich finde sie auch wunderschön, was soll die denn kosten?“, fragte die Kundin interessiert.

      Der Mann bedachte Julia mit einem kleinen Seitenblick, kaum länger als eine halbe Sekunde, doch das reichte schon aus, um sie in Panik zu versetzen. Das kleine Herz in ihrer Brust begann zu hämmern, und sie fühlte erst einen kalten Schauer über ihren Körper huschen, dann wurde ihr unglaublich heiß. Sie wusste, dass ihr Kopf nun rot angelaufen war, und das kleine Geheimnis, das sie in ihrem Ärmel verbarg, ihr förmlich ins Gesicht geschrieben stehen musste. Ihre Ohren fingen an zu rauschen und zu dröhnen. Julia sah, wie sich die beiden unterhielten, konnte jedoch kein Wort mehr verstehen. Die Lippen der Erwachsenen bewegten sich abwechselnd und die Gesichtszüge durchliefen die unterschiedlichsten Veränderungen. Die Käuferin zückte eine große, dunkelrote Geldbörse aus ihrer Handtasche und fischte einen Geldschein heraus. Der Verkäufer öffnete seine Registrierkasse und nahm ihn entgegen.

      Klinge-ling-ling ... bimmelte das Glöckchen über der Tür munter. Das Geräusch löste die Starre, die Julia befallen hatte. Sie streifte die Lähmung wie einen kratzenden Pullover ab und drehte sich um. Drei ältere Mädchen strömten kichernd und schubsend zur Tür herein. Zwei von ihnen hatten ein Nasenpiercing, der dritte Teenager große Ringe in beiden Ohrläppchen. An ihren Hälsen baumelten Lederschnüre mit Steinen und Pseudo-Amuletten. Ihre Kleidung war ziemlich bunt und schrill. Das fiel Julia noch auf, dann - eh sie noch richtig begriff, was sie eigentlich tat - nutzte sie die Gunst der Stunde und schummelte sich durch das Trio hindurch und stand plötzlich wieder auf dem Gehsteig.

      Draußen vor der Tür konnte sie im ersten Augenblick gar nicht glauben, dass sie es geschafft hatte, den Stein zu klauen, ohne dabei erwischt zu werden. Die Frau im hellblauen Kleid kam ebenfalls aus dem Geschäft heraus. Um ihren Hals hing eine Kette mit dunkelblauen Steinen, deren Oberflächen mit goldenen Pünktchen überzogen waren, die im Sonnenlicht glitzerten. Sie lächelte, kam mit zwei großen Schritten auf Julia zu, bückte sich zu ihr herunter und tätschelte ihren Kopf.

      „Tschüss, meine Kleine“, frohlockte sie, kniff ihr liebevoll in die Wange und stolzierte davon. Julia stand noch ein paar Sekunden wie versteinert auf dem Trottoire und blickte der Dame mit der Halskette nach. Dann fiel ihr ein, was sie gerade getan hatte, und warf einen ängstlichen Blick zur Eingangstüre des Geschäftes, denn sie erwartete, dass diese jeden Augenblick aufging und der Mann sich auf sie stürzen würde und sie so lange schütteln würde, bis der gestohlene Kristall aus ihrem Ärmel rutschte. Die drei Mädchen würden dahinter stehen und Beifall spenden und grausliche Wörter rufen.

      Diebin! Steineklauerin! Elternloser Dreckspatz! Einsperren... Julia wollte nicht darauf warten, bis diese Vision in Erfüllung ging. Sie gab Fersengeld und rannte mit überkreuzten Armen in dieselbe Richtung, wohin die Frau mit der Halskette verschwunden war. Sie entdeckte das hellblaue Kleid inmitten einer kleinen Menschenansammlung, die an einer roten Ampel wartete. Das Signal sprang soeben auf Grün um und die Menge setzte sich in Bewegung. Julia lief über den Zebrastreifen hinterher.

      Sie verfolgte die Frau etwa eine Viertelstunde und beobachtete, wie sich manche Männer ungeniert nach dieser umdrehten, um ihr nachzugucken. Julia wusste zwar nicht, was es mit diesem merkwürdigen Ritual auf sich hatte, dachte aber, dass das Nachgucken ein ziemlich blöder Brauch sei, denn die Männer achteten nicht mehr darauf, wohin sie gingen. Die Frau bemerkte von all dem, was sich hinter ihrem Rücken abspielte, gar nichts und bummelte gemächlich die Einkaufsstraße entlang in Richtung Zentrum. Hin und wieder stoppte sie bei dem einen oder anderen Geschäft, um die Dinge, die in der Auslage ausgestellt waren, in Augenschein zu nehmen.

      Sie hatte anscheinend jede Menge Zeit und unterschied sich somit von den anderen, hektisch durcheinanderlaufenden Menschen, die ihre Kinderwägen maulend vor sich herschoben oder mit einer Unzahl von Plastiksackerl und Tragtaschen bepackt waren und sich mühsam einen Weg durch die Massen bahnten. Manche Paare unterhielten sich lautstark über eine soeben getätigte Fehlinvestition, oder stritten über irgendwelche belanglosen Dinge. Andere schwiegen einander an, bewahrten dabei ein ernstes Gesicht, aber man sah ihnen an, dass sie uneins über irgendein Thema waren. Julia viel auf, dass die Leute, die allein unterwegs waren, viel ruhiger und entspannter wirkten; Und so auch die Kettendame, der sie bis zur Station Wien-Mitte folgte. Dort tauchte diese in einem Kaufhaus unter und Julia verlor sie aus den Augen.

      Sie durchquerte die Bahnhofshalle und fuhr mit der Rolltreppe zur U-Bahn hinunter. Ein Zug war ihr vor der Nase davongefahren und deshalb balancierte sie den Bahnsteig an der gelben Sicherheitslinie


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