Allein. Florian Wächter

Allein - Florian Wächter


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nach wieder aus.

      Die Geräusche hatten sich ebenfalls verändert. Robert hatte sich schon so daran gewöhnt, dass er sie gar nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte, obwohl es nach wie vor unangenehm laut gewesen war. Die optischen Reize hatten seine gesamte Aufnahmefähigkeit in ihren Bann gezogen. Doch jetzt, da der Pegel nachließ, und das Konzert der etwas anderen Art im Abklingen war und allmählich wieder in dieses altbekannte Rauschen überging, lenkte er seine Aufmerksamkeit abermals darauf.

       Es bildet sich zurück, zu seinem ursprünglichen Geräusch. Der ganze Spuk geht zu Ende. Ich bin mir sicher, dass das Rauschen auch bald wieder abgeklungen ist, und was dann folgt ...

      Noch bevor er diesen Satz zu Ende denken konnte, vernahm er ein Gurgeln, das genauso klang wie das Gurgeln des Wassers in einer Badewanne, wenn der letzte Rest in den Abfluss gesaugt wird.

       ... werde ich sehen, wenn es soweit ist.

      Dann ging das Licht aus und er stand im Dunkeln.

      Es ist soweit. Die Kerze war durch einen Luftzug irgendwann ausgelöscht worden. Er hatte bis jetzt auch genug Licht und andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Bis jetzt. Ganze zehn Minuten! Für zehn Minuten Licht und Strom. Zehn Minuten Zivilisation, Menschen, Hoffnung. Aus und vorbei.

      Neiiin! Die Stadt hatte wieder das unbelebte Gesicht von vorhin angenommen. Ihr Antlitz wirkte wie das einer Filmkulisse nach Beendigung der Dreharbeiten. Alles wirkte unecht, einer Maske gleich. Wenn man dahinter blickt, dann gibt es dort nichts zu sehen. Robert fühlte sich in jenem Moment, in dem er an seinem Fenster stand und auf die verlassenen und vom Mond nur spärlich beleuchteten Straßen und den Kanal hinabblickte, wie eine vergessene Requisite. Er fürchtete sich davor, dass sich dieses Schauspiel wiederholen könnte. Der Tag, der innerhalb von zehn Minuten vor seinen Augen vorbeizog, während er hilflos zusehen musste, wie es geschah.

      Er war der vertrauten Welt so nah gewesen und gleichzeitig doch so fern. Dieser Gedanke versetzte ihn in Panik und jagte ihm eiskalte Schauer den Rücken hinab.

      Was kommt jetzt noch? Was kann ich noch ertragen, ... was muss ich noch ertragen? Weshalb ausgerechnet ich?

      3.

      Lisa öffnete das Küchenfenster und beugte sich weit hinaus, um das Geräusch besser hören zu können. Es klang wie das Rauschen einer Meeresbrandung, nur schien es eine einzelne gigantische Flutwelle zu sein, die sich näher und näher wälzte. Sie spähte in die Richtung, aus der es kam, doch die anderen Häuser des Blocks, die diesen Innenhof bildeten, versperrten ihr die Sicht.

      Plötzlich lösten sich ihre Füße vom Küchenboden, und sie verlor das Gleichgewicht. Sie fiel kopfüber aus dem Fenster und ruderte wie wild mit den Armen. Ihr Mund öffnete sich - sie wollte schreien -, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die Luft strich durch ihre Kehle, aber ihre Stimmbänder wollten einfach nicht schwingen. Verzweifelt ruderte sie mit ihren Armen, um dem scheinbar Unvermeidlichem doch noch zu entgehen. Der Rasen kam unerbittlich näher, doch knapp über dem Boden wurde ihr Fall gebremst, und sie flog horizontal über ihn hinweg. Sie steuerte auf die mächtigen Kastanien zu und gewann allmählich an Höhe. Als sie die Baumwipfel erreicht hatte, flog sie eine leichte Linkskurve und schwebte über das Dach eines der Häuser, die ihr vorhin die Sicht versperrt hatten.

      Was sie auf der anderen Seite sah, verschlug ihr fast den Atem. Ein riesiger See erstreckte sich von der Hausmauer unter ihr bis zu einem Gebirgszug, der sie an ihre Heimat, an Kärnten, erinnerte.

      Ein Traum, es ist nur ein Traum. Irgendwie wusste sie aber, dass dieser See nicht in Kärnten lag, sondern im Salzkammergut. Sie war schon einmal dort gewesen!

      Attersee, ... das ist der Attersee! Das Rauschen war auf dieser Seite des Hauses lauter und kam noch immer näher, aus der Richtung, in der die Berge lagen. Lisa konnte jedoch die Ursache nicht erkennen.

      Die ganze Szenerie wirkte friedlich, nahezu idyllisch, … wäre da dieses unangenehme Geräusch nicht gewesen.

       ... Lisa ... Lisa ...

      Eine verzerrte Frauenstimme rief ihren Namen.

      ... Lisa ... Sie kannte diese Stimme.

       Das ist der See. Der See ruft meinen Namen!

      Sie blickte zur Wasseroberfläche hinunter. Sie wollte nicht dorthin, doch der See zog sie auf magische Weise zu sich hinab, auf eine unter der Oberfläche treibende Gestalt zu. Sie schwebte über dem Wasserspiegel und beobachtete, wie der Körper unter dem Wasser immer höher stieg, bis sie ihn beinahe berühren konnte. Lisa hätte ihren Arm nur ausstrecken müssen, doch nichts widerstrebte ihr im Augenblick mehr, als genau das zu tun. Das Gesicht der Gestalt wurde unter der schaukelnden Wasseroberfläche immer deutlicher erkennbar. Es war das verzerrte Abbild ihrer Freundin... Susi... Susi Kramer!

      Oh mein Gott, das ist sie! Lisa sah, wie Luftblasen von Susis geöffnetem Mund aufstiegen. Die Lippen bewegten sich, als ob sie ihr etwas Wichtiges sagen wollte, doch Lisa konnte nichts hören, außer dem brausenden Geräusch, das nun überall zu sein schien. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von Susis schreckensgeweiteten Augen und den aufsteigenden Luftbläschen nehmen. Sie starrte wie gebannt auf die blasse aufgedunsene Gestalt ihrer ertrunkenen Freundin und war unfähig sich zu bewegen.

      Plötzlich begann Susis Körper wieder hinab zu sinken. Die Leiche streckte ihre Arme nach Lisa aus, noch immer die Lippen bewegend. Sie sank immer tiefer dem dunklen, schlammigen Seeboden entgegen und wurde immer unscheinbarer, bis sie nicht mehr zu erkennen war. Einzelne Luftblasen stiegen noch an die Oberfläche, dann war der See wieder ruhig.

      Susi, rief sie. „Susi!“

      Lisa schreckte hoch. Sie war von ihren eigenen Rufen wach geworden.

      Nur ein Traum, ... es war nur ein ... das Rauschen konnte sie aber immer noch hören. Ebenso hörte sie ein Peitschen, Pfeifen und Klatschen, einen tiefen Basston, Grillenzirpen und Schnalzen.

      Was ist das? Lisa überlegte kurz, ob sie aufstehen, oder unter die Decke kriechen sollte. Sie entschied sich für die erste Möglichkeit und kletterte aus dem Bett. Als sie am Badezimmer vorbeikam, bemerkte sie, dass die Neonröhre leuchtete. Auch im Wohnzimmer brannte das Licht. Sie drehte beides ab, denn es war taghell. Sie schlurfte zum Fenster und öffnete es, um hinauszusehen. Dieses infernale Getöse war zwar überall zu hören und schien aus keiner bestimmten Richtung zu kommen wie in ihrem Traum, doch draußen war es entschieden lauter als innerhalb der Wohnung.

      Die folgenden Beobachtungen, die sie machte, ließen Lisa wieder einmal an ihrem Geisteszustand zweifeln. Sie sah, wie die Wolken am Himmel vorüberzogen, als wären es tieffliegende Überschallflugzeuge, wie diese immer mehr und mehr wurden, bis der Himmel bedeckt war von einer schwarzgrauen, brodelnden Wolkenmasse, die vorbeifloss wie ein Pyroklastischer Strom. Danach hüllte sich alles in ein nebeliges Grau, und Lisa verfolgte fassungslos, wie die Dächer ringsum nass wurden. Wenige Sekunden später riss die Wolkendecke wieder auf und die Dächer trockneten genauso schnell und mysteriös. Sie beobachtete, wie die Sonne innerhalb einer Minute die Strecke von drei Stunden zurücklegte, um schließlich wie jeden Tag an der üblichen Stelle hinter einem Dach zu verschwinden.

      Ich muss noch träumen, so etwas gibt es nicht. Im Hof wurde es rasch dunkler, und das schnelle Ergrauen der Umgebung erweckte bei Lisa den Anschein, als ob alle Farben aus den Dingen gesaugt würden. Nach und nach verblassten sie zu einem stumpfen Grauton. Es war wieder Nacht geworden.

      Wie schnell die Zeit verflieg! Unheimlich! Die Geräusche verebbten zu dem konstanten Rauschen, bis es mit demselben blubbernden Gurgeln endete, das auch Robert Lang im selben Augenblick hörte. Lisa verharrte einen kurzen Moment im Dunkeln. Dann stolperte sie ins Schlafzimmer und kroch unter die Bettdecke, nachdem sie die Kerze auf ihrem Nachtkästchen in Brand gesetzt hatte. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf. Vor allem aber hatte sie Angst. Angst davor einzuschlafen, während sich die Welt um sie herum zu einem noch unfreundlicheren Ort verwandeln konnte, als er ohnehin schon war. Angst davor, welche Überraschungen noch auf sie warteten.


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