Das Urvieh. Margret Jacobs
Spiegel wirkte. Allerdings konnte man seine Umgebung nur verzerrt wahrnehmen, wenn man hineinblickte. Abellus Augen schienen darin riesig und noch schwärzer zu sein, als sie eh schon waren. Sein Gesicht wirkte in dem spiegelglatten Ding ganz schmal und seine Wangen eingefallen. Vielleicht war dieses Ding ja auch ein Spielzeug. Auf jeden Fall konnte man damit allerlei anstellen.
Abellus legte den Becher auf den Steinboden und kickte ihn mit seinen Zehen an. Ein schepperndes Geräusch erklang und wirkte auf ihn wie Musik. Er versuchte es noch mal und der Becher hüpfte geräuschvoll über die Steine. Abellus kicherte. Die Menschen verstanden es, schöne Dinge zu erfinden. Sein Blick fiel erneut auf den Kelch auf dem Steinboden und er sah, dass ein kleine Beule das Behältnis schmückte. Die war neu. Die hatte er wohl mit seiner Spielerei hinein gemacht. Nun, warum auch nicht? Dinge blieben nie so, wie sie waren. Sie veränderten sich.
Erschrocken hielt er inne. Jemand hatte die schwere Tür bewegt, die zum Vorraum des großen Gebäudes führte. Er selber ging nie durch diese Öffnung, denn sie war verschlossen. Er hatte es schon mehrmals probiert, aber so sehr er auch an dem großen Holz, was in die Mauer eingelassen war, rüttelte, es war nicht zu bewegen. Zu schwer oder eben durch einen Mechanismus verschlossen.
Abellus hatte beobachtet, dass die Menschen es liebten, Dinge – kleine und große – zu verschließen und zu verstecken. Er fand es wunderbar, nach versteckten Dingen der Menschen zu suchen und sie dann schließlich zu finden. Aber meistens wusste er nicht, was mit dem Gegenstand anzufangen war. Das machte ihm aber nichts. Die Dinge der Menschen waren sehr interessant. Er kannte so viele Gegenstände gar nicht. Er selber besaß nur Weniges. Sein Heim unter der Erde war spartanisch eingerichtet und jeder Gegenstand hatte eine wichtige Funktion, die dem Überleben diente. Die Menschen dagegen schienen Gegenstände zu horten. Sie musste sehr erfinderisch sein – diese Spezies.
Um sicher zu gehen, dass er nicht entdeckt wurde, hockte er sich hinter den Vorhang in dem Raum mit den glänzenden, kleineren Dingen. Und dabei vergaß er, den nun zerbeulten Becher wieder an seinen Platz zu stellen. Er überlegte kurz, was zu machen sei und entschloss sich, einen kurzen Satz nach vorne zu machen – auf allen Vieren, darin war er sehr geschickt – und den Becher zu sich hinter den Vorhang zu nehmen. Keine Sekunde zu früh!
Pastor Roderich Krech steckte seinen Kopf in den Raum und sah sich um. Zog sich jedoch sofort wieder zurück.
Abellus kannte diesen Menschen nur vom Sehen. Er konnte ihn beobachten, wenn er ein mal die Woche vorne in dem großem Raum stand und abwechselnd seine Arme hob und wieder senkte. Er sprach auch viel. Hauptsächlich allein. Keiner schien sich zu trauen, ihn zu unterbrechen, denn wenn dieser Mensch vorne stand, schwiegen alle anderen Menschen, die vor ihm auf dem Holz saßen. Es schien den Leuten nicht zu gefallen, was er da sehr lange Zeit vortrug, denn keiner klatschte in die Hände, wenn er fertig war.
Abellus war ganz stolz auf diese Entdeckung. Er hatte beobachtet, dass Menschen ihre beiden Hände aufeinander schlugen, wenn ihnen etwas gefiel. Neulich hatte nämlich ein weibliches Junge von ihnen, Geräusche auf so einem langen Stab gemacht, der glänzte.
Abellus konnte beobachten, dass dieser Stock einige Löcher besaß, die das junge Weibchen mit ihren Fingern ab und zu zuhielt. Gleichzeitig spitzte sie über einem größeren Loch in dem Silberstab ihre Lippen und pustete Luft hinein. Das Ergebnis davon war, dass Geräusche aus dem Stock kamen.
Abellus konnte nicht sagen, ob diese angenehm waren oder nicht. Er konnte damit wenig anfangen. Aber den Menschen schien es zu gefallen, denn sie schlugen ihre Hände zusammen und stießen zudem jubelnde Rufe aus. Auch bewegten sie sich dabei viel. Bei dem Mann, der gerne vorne steht, bewegte sich niemand. Zumindest für eine längere Zeit nicht. Abellus war es ein Rätsel, warum diese Menschen ein mal die Wochen kamen und sich hinsetzen, um dem Mann da Vorne zu zuhören, wenn es ihnen doch gar nicht gefiel. Und warum ließen sie nicht statt dessen das junge Weibchen auf ihrem Stab spielen?
Abellus seufzte, er hätte zu gerne die Rätsel um diese Menschen gelöst, doch ihm blieb nichts anderes übrig, als Spekulationen anzustellen. Er blickte vorsichtig hinter dem Vorhang in den kleinen Raum. Der Mann von Vorne war verschwunden. Da hatte er Glück gehabt. Noch nie hatte er sich einem Menschen gezeigt und er hielt es auch für sicherer, dies nicht zu tun. Schnell stellte er den zerbeulten Becher wieder an seinen Platz.
Hannelore erschrak. Nervös rückte sie ihre Brille auf ihrem Nasenrücken zurecht. Sie hatte es schon wieder getan! Ihr passierte das ständig, dass sie Dinge tat, die sie eigentlich nicht tun wollte. Vielleicht war sie mit ihren über vierzig Jahren einfach zerstreut geworden. Anders konnte sie sich ihr merkwürdiges Verhalten nicht erklären. Sie hatte schon wieder das Wasser in der Schale verunreinigt. Warum musste sie sich auch immer die Hände eincremen, wenn sie in den Gottesdienstraum ging? Es war schon eine Marotte von ihr. Dabei wusste sie, wie wütend der Küster werden konnte, wenn er sah, dass das heilige Wasser zum bekreuzigen, einen Fettfilm hatte. Nun, sie konnte das verstehen, es war ja auch eklig, dass dieses verunreinigte Wasser bei dem Kreuzzeichen auf Gesicht und Oberkörper tröpfelte. Aber sie konnte ihr Fehlverhalten irgendwie nicht abschalten.
Pastor Krech hatte sie hierher beordert, damit sie die hinteren Räume durchfegte. Sie fand, das war als Sekretärin der Gemeinde gar nicht ihre Aufgabe. Dieser Roderich - was für ein lächerlicher Vorname! – hatte ihr die Putzarbeit als ehrenvolle, ehrenamtliche Arbeit verkauft. Sie war im Laufe der Jahre zu einem Mädchen für alles geworden – ohne Zusatzbezahlung versteht sich. Sie ärgerte sich schon lange darüber, hatte aber nie den Mut aufbringen können, sich dagegen zu wehren. Ihre Waffe war es, sich irgendwie vor der unbezahlten Zusatzarbeit zu drücken. Und so verschwand sie schnell wieder aus dem Kirchenraum, ohne die hinteren Räume gefegt zu haben. Sie war doch keine Putzfrau!
Wütend auf sich, dass sie nicht den Mut hatte, zu kündigen und irgendwo anders anzufangen, stieß sie die Tür zu ihrem Reich auf. Ein muffiger Geruch, der von der schlechten, billigen Teppichware stammte, schlug ihr zur Begrüßung entgegen. Die Luft stand. Kein Lüftchen regte sich. Sie eilte zu dem Fenster hinüber, um es zu öffnen. Wenigstens hatte sie von hier aus einen Blick in den Gemeindegarten. Erst dahinter lag die Straße mit ihrer Geschäftigkeit.
Hannelore ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen. Es waren schreckliche Verhältnisse hier. Sie war schon lange unzufrieden. Aber ihr fehlte das Quäntchen Unzufriedenheit, was dafür sorgte, dass sie endgültig ging. Gekündigt – innerlich – hatte sei schon lange. Doch sie behielt ihre Unzufriedenheit für sich. Was hatte Pastor Krech – oh ja, Roderich, haha – ihr neulich unverschämter Weise gesagt? Sie wäre zu langsam?! Wirklich unverschämt dieser Kerl! Dabei machte sie so schnell, wie sie eben konnte. Meine Güte, wenn er jemand schnelleres haben wollte, dann sollte er eben eine Zwanzigjährige einstellen. Vermutlich wäre er damit zufrieden, oder auch nicht. Krech war nie zufrieden. Krech fielen immer die Unzulänglichkeiten der Menschen auf. Das war sein Job.
Verärgert öffnete Hannelore die oberste Schublade an ihrem Schreibtisch. Alles war sehr aufgeräumt. Oberflächlich betrachtet. Die Schreibtischplatte war nur mit wenigen Gegenständen belegt und die lagen oder standen alle so, dass man den Eindruck haben konnte, es wäre ein Ausstellungsstück in einem Möbelfachgeschäft. Das war wichtig so. Besucher der Kirchengemeinde sollten den Eindruck haben, dass hier alles in Ordnung war, das gehörte sich so für eine Kirche. Darunter allerdings hatte Hannelore – aus Protest – etwas deponiert, was nicht ins Sekretariat einer Kirche gehörte. Sie grinste in sich hinein; es tat gut, die aufgezwungene Ordnung ein wenig zu verrücken.
Holda schnüffelte an der kleinen, orangen Rübe, die ihr Abellus zum Mittagessen vorbei gebracht hatte. Er war leider danach sofort wieder verschwunden, mit der Bemerkung, dass er nicht sehr hungrig sei und lieber wieder an die Erdoberfläche wolle.
Holda schüttelte den Kopf. Ihr Lebensgefährte war sehr unvernünftig. Wesen wie sie gehörten nicht in die chaotische Welt der Menschen. Das waren gefährliche Geschöpfe! Nicht einzuschätzen in ihren Verhaltensweisen. Das wusste jeder ihrer Spezies. Diese Menschen waren blutrünstig und hatten Wesen ihrer Art über Jahrhunderte verfolgt und verbrannt. Keiner aus ihrer Art wusste warum. Die Kolis waren sehr friedliebend. Schon immer gewesen. Aber diese Menschen wollten das nicht begreifen